An jeder Ecke ein Geschichtenerzähler

Jazz als Ritual und Wegelagerei: Das Jazzfest Berlin hat mit der diesjährigen Ausgabe seinen betulichen Ruf endgültig abgelegt

Vieles von dem,was beim Festival gespielt wurde, geht als Free Jazz durch

Von Robert Mießner

Mit einem wohligen Brummen hob es am Donnerstagabend an, den Samstagabend beschloss es mit einem wohltuenden Knall: Das diesjährige Jazzfest Berlin ist zum Entstehungszeitpunkt dieses Berichts noch nicht abgeschlossen, aber es hat, wie bereits jetzt vermeldet werden kann, seinen etwas betulichen Ruf abgelegt. Der taz-Autor Steffen Greiner hatte vorige Woche an dieser Stelle Revue passieren lassen, wie Musiker dereinst auf der Bühne eingeschlafen seien oder sich Festivalgründer gegenseitig vor den Kadi schickten. Das Jazzfest als Schlaflabor und als Rosenkriegskulisse also, das gäbe eine famose Soap-Opera ab. Für heute aber lässt sich ein anderes Lied singen.

Das wohlige Brummen generierte der bald 75-jährige Anthony Braxton auf dem Eröffnungsabend im Martin-Gropius-Bau. Schon am Eingang wurde deutlich, dass der Abend sich von einem gewöhnlichen Konzertabend unterscheiden wird. Keine Bestuhlung, dafür im Vorderbereich des Lichthofs Platz für ein Orchester und ein Dirigentenpult, an dem Braxton Platz nehmen sollte.

Der Musiker und Komponist, der sich Genre-Zuordnungen wie Jazz oder Neue Musik aufs Schönste entzieht, brachte ein einziges Blatt Papier mit und platzierte es mit der beschriebenen Seite nach unten auf seinem Pult. „Sonic Genome“ heißt die ausladende Komposition, die Braxton da mit Berliner MusikerInnen zur Aufführung brachte, ein Stück Raummusik im wahrsten Sinne des Wortes. Denn das Orchester stieg mit einer flächigen Wall of Sound ein, aus der Braxton dann einzelne Akzente buchstäblich herauszog – das Schrillen einer Posaune oder das Klöppeln eines Vibrafons.

Dann griff Braxton zu dem geheimnisvollen Papier, wendete es und zeigte es den MusikerInnen. „220 p.I.“ war da zu lesen, und auf die Zauberformel hin bildeten sich aus dem Orchester einzelne kleine Bands in verschiedensten Besetzungen, um für die nächsten sechs Stunden durch das Gebäude zu ziehen. Klanginseln bildeten sich, Jazz geriet zur Wegelagerei, zur Karawanserei, wo an jeder Ecke ein Geschichtenerzähler wartet.

Komplett abgefahren klang die Gruppe, die sich irgendwann im Treppenhaus versammelte und dabei unter anderem ihren Standbass als Perkussionsintrument bespielte. An dieser Stelle ein notwendiger, ein überfälliger Einwurf: Wird der Begriff sehr weit gefasst, geht vieles von dem, was auf dem verlängerten Jazzfest-Wochenende gespielt wurde, als Free Jazz durch. Aber was hat es mit dieser Freiheit auf sich? Sie hat zumindest nichts zu tun mit Rücksichtslosigkeit oder Beliebigkeit. „Formen zertrümmern, sich im Kollektiv zusammenschließen und die eigenen Aufnahmen selbst verlegen – das ergibt noch keine Garantieformel des Widerständigen. Alles lässt sich ausbeuten, das ist so banal wie erschütternd“, schreibt Felix Klopotek im unbedingt lesenswerten Programmheft des Jazzfests. Und in einem ebenda gedruckten Gespräch mit dem Philosophen Jacques Derrida verwahrt sich Ornette Coleman, Namensgeber des Free Jazz, gegen die Vorstellung, er spiele auf seinem Saxofon, was ihm gerade so durch den Schädel fahre, ohne irgendeiner Regel zu folgen.

Coleman sollte ein Teil des Samstagabends gehören. Vorher jedoch waren zwei Deutschlandpremieren zu erleben: Die Pianistin Eve Risser spielte ein auf ihrem Album „Après un Rêve“ basierendes Konzert, in dem sie das Soloklavier zum kleinen Kammerorchester werden ließ. Auch da war zum Beispiel ein Vibrafon zu hören, oder zumindest Klänge, die ihm nahekamen. Risser erzeugte sie im offengelegten Klavierinneren mit Drumsticks und kleinen Paukenschlegeln.

Auf Rissers einnehmenden Minimalismus folgte Maximalismus: Der Trompeter und Bandleader Ambrose Akinmusire präsentierte mit einer Band und einem Streichquartett sein Album „Origami Harvest“. Dabei wollte sich eine Stimmung ähnlich einem der schönsten Ornette-Coleman-Alben, „Friends and Neighbors“, einstellen: Die Stimmung einer Community, in diesem Falle versammelt um ein Amalgam aus Jazz, HipHop und Kammermusik.

Kompositionen Ornette Colemans kamen zum Zug mit der Bigband des Hessischen Rundfunks plus dem Pianisten Joachim Kühn und dem Drummer Joey Baron, einem, der Ende der Achtziger mit John Zorn den Punks Jazz beibrachte. Den Samstag beschloss eine Performance (das Wort „Konzert“ wäre zu harmlos) um die Formationen T(r)opic und São Paulo Underground, die wie in einem Impro-Stonehenge einen Kreis bildeten, in dem die Tänzerinnen Pauline Simon und Ana Rita Teodoro agierten. Hier wurde Jazz (auch das Wort ist zu harmlos) zum Ritual. Umnachtet und dabei klarsichtig, die Blume Billie Holidays im Haar.