Gute Jungs, böse Mädchen

Im SO36 verbeugten sich die Nachgeborenen vor dem Westberlinder achtziger Jahre, und die Party stand dann auch ziemlich ohne Vergleich da

Anlässe für die Gewaltmusik sind traurig, schlimm, sie selbst ist befreiend

Von Robert Mießner

Wo die Kunststoffblumen Craft-Beer trinken: Die am Freitagabend im Kreuzberger Musik-Club SO36 stattgefundene Achtziger-Jahre-Party unterschied sich erheblich von vergleichbaren Veranstaltungen, ja, sie stand sogar ziemlich ohne Vergleich da. Ein halbes Dutzend roter Rosen und Päonien in Weißrosa hatte die Band Die Kerzen nach Berlin auf die Bühne gebracht und in Quartiermeister-Flaschen gesteckt. Die PVC-Pflanzen brauchen weniger Pflege als die Gefühle, von denen das Quartett aus Ludwigslust, Mecklenburg-Vorpommern, singt. „Die Melancholie / Honey c’est la vie“ heißt es im Titelsong ihres Albums „True Love“, und einige Zeilen später: „Love will tear us apart.“ Kinder der achtziger Jahre wissen da: das sind Joy Division, die Postpunk-Band, mit der die Achtziger beginnen, von denen Sänger Ian Curtis nur noch die ersten fünf Monate erleben sollte. Der DJ des Abends hatte vor den Kerzen Joy Division aufgelegt.

In der Ankündigung war von einer Verbeugung der Nachgeborenen vor dem Westberlin der achtziger Jahre die Rede und große Namen wie Nick Cave und die Einstürzenden Neubauten wurden bemüht. Aber wie passt deren industrielles Scheppern zu dem tollen Dream Pop und Synth Soul der Kerzen? Ganz gut, bedenkt man, dass etwa die ersten Aufnahmen Whitney Houstons mit der New Yorker No-Wave-Band Material entstanden sind. Insofern verlief der Abend so entspannt wie stilistisch vielfältig. Die Garderobe der Besucher tat ihr Übriges: Die üblichen Leder-, Jeans- und Bomberjacken waren zu sehen, aber auch das „Lucifer Rising“-Logo vor dem Regenbogenhintergrund aus Kenneth Angers gleichnamigen Film. Und passend zu den Achtzigern trägt die Dame wieder Blazer, gerne mit Nadelstreifen. Die Kerzen traten in Unisono-Bühnenkostümen auf, schieferrot und schwarz. Ihr Sänger verabschiedete sich mit der dezenten Bemerkung, sie seien die Netten gewesen. Ab jetzt werde es anders.

Als müsse er das unterstreichen, holte der DJ dann aus seinem Köfferchen The Fall, deren letztes Berliner Konzert vor dem Tod Mark E. Smiths im SO36 2017 stattgefunden hatte: Beefheart-Rockabilly unter einer Windspiel- und mehreren Kugellampen, als wären sie aus dem 2008 abgerissenen Palast der Republik nach Kreuzberg gekommen. Die zweite Band des Abends war das Trio Gewalt, und ihr Bühnenumbau ließ ahnen, ja, jetzt werde die dunkle, lautstarke Stunde der Achtziger schlagen. Drei ausladende Verstärker wurden auf die Bühne bugsiert und der mittlere von einem gigantischen schwarzen Kasten gekrönt. Stand da erst mal einfach so rum, keiner wusste, warum. Ihnen sollte geantwortet werden.

Ein Drumcomputer pochte, eine E-Gitarre schlug einen schweren Haken, und Zeilen wie diese wurden von der Bühne gespuckt: „Ich bin ein guter Junge / Du bist ein guter Junge / Wir sind gute Jungs / Das ist gut.“ Weiter im Text: „Ich bin ein böses Mädchen / Du bist ein böses Mädchen / Wir sind böse Mädchen / Das ist böse.“ Und so weiter in einem fort, in seiner Wiederholung Sinn frei- wie zerlegend, während der schwarze Monolith über dem Verstärker im Takt den Schriftzug „Gewalt“ und das Bandlogo in den nun dunklen Schlauch des SO36 sendete. Grandios! Gewalt sind die Band Patrick Wagners, der mit seiner Combo Surrogat in den frühen Neunzigern einmal eines der heftigsten Konzerte gegeben hatte, das die Ostberliner Insel der Jugend in Treptow je erlebte. Schön, dass es so etwas immer noch oder wieder gibt. Die Anlässe für die Gewaltmusik sind traurige und schlimme, was sie daraus machen, befreiend. Die Kunststoffblumen allerdings waren da längst verschwunden.