Rückkehr von Kindern von IS-Anhängern: Zurück in die Normalität

Die Bundesregierung hat begonnen, die Kinder deutscher IS-Anhänger_innen zurückzuholen. Wie können sie wieder in den Alltag integriert werden?

Ein etwa vier Jahre altes Kind in rotem Mantel steht zwischen Frauen in schwarzen Umhängen. Ihre Köpfe sind sind nicht zu sehen. Das Kind weint.

Viele Kinder in Syrien sind schwer traumatisiert. Auch jene deutscher IS-Anhängerinnen Foto: dpa

Es ist ein normaler Alltag, den Yahya jetzt lebt. Aber auch: ein gänzlich ungewohnter. Seit sechs Wochen ist der Siebenjährige wieder in seiner Heimat, in Nordhessen. Bei seinen Großeltern. Er ist in Sicherheit.

Noch vor wenigen Wochen lebte Yahya im Norden Syriens, im kurdischen Haftlager Al-Hol, einer riesigen Zeltstadt angelegt für 20.000 Menschen, in der jetzt mehr als 70.000 untergebracht sind. Seine Eltern waren deutsche IS-Anhänger, die 2015 aus Hessen nach Syrien aufbrachen. Der Junge war damals drei, die Eltern nahmen ihn einfach mit. Sie sollen bei Gefechten gestorben sein, die Mutter in der letzten IS-Hochburg Baghuz. Dort kam offenbar auch seine kleine Schwester ums Leben. Yahya blieb als Waise zurück und landete in Al-Hol, andere Frauen haben ihn dort mitversorgt.

Bis Mitte August die Bundesregierung – nach langen, stillen Verhandlungen – Yahya mit drei weiteren Kindern aus dem Camp holen ließ. Die Kinder wurden mit Fahrzeugen privater Hilfsorganisationen nach Erbil im Irak gebracht. Dort wartete in einem Hotel schon Yahyas Großmutter. Zusammen ging es mit dem Flugzeug nach Frankfurt am Main.

Für Yahya war es das Ende einer Odyssee. Und für die deutsche Außenpolitik eine Zäsur. Erstmals holte die Bundesregierung Kinder von deutschen IS-Angehörigen aus Syrien nach Deutschland zurück. Damit beginnen neue Herausforderungen. Für Yahya, der sich auf einen neuen Alltag einlassen muss, auf neue Menschen.

Seine Oma hatte der Junge vier Jahre lang nicht gesehen, zuletzt hatte es über Skype Kontakt gegeben. Und auch für den deutschen Staat, der Kinder wie Yahya – die in ihren wenigen Lebensjahren bereits Bürgerkrieg, den Terror des IS und das Elend der Gefangenenlager erlebt haben – wieder in diese Gesellschaft integrieren muss.

Sind die Kinder nur Opfer oder auch Gefahr?

Der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen warnte, damals noch im Amt, vor der Rückholung: Die Kinder könnten „lebende Zeitbomben“ sein. Verroht, indoktriniert, leicht in­strumentalisierbar. Auch CSU-Innenminister Horst Seehofer betonte im Frühjahr, die Kinder würden vom IS „eingesetzt für die politischen Ziele“. Hole man sie zurück, brauche es genaue Einzelfallprüfungen.

In Sicherheitskreisen wird stets auf den Fall eines 12-Jährigen verwiesen, der 2016 auf dem Ludwigshafener Weihnachtsmarkt versuchte, eine Bombe zu zünden. Oder auf eine 15-jährige IS-Anhängerin, die kurz zuvor in Hannover einen Polizisten niederstach. Der Verfassungsschutz will auch deshalb die Altersgrenze von 14 Jahren gänzlich abschaffen, ab der extremistische Personen beobachtet werden dürfen.

Zuletzt änderte sich der Tenor. Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte, die Bundesregierung setze sich dafür ein, „dass auch weitere Kinder Syrien verlassen können“. Auch Familienministerin Franziska Giffey (SPD) sieht eine klare Verantwortung des deutschen Staates.

„Es geht um Kinder, die viel Leid hinter sich haben, die teilweise erkrankt, verletzt oder unterernährt sind, manche sind in diesen Lagern ganz auf sich allein gestellt“, sagte sie der taz. „Diese Kinder sind nicht für die Taten ihrer Eltern verantwortlich, geschweige denn selbst Täter. Sie sind Opfer der fanatischen Verblendung ihrer Eltern und des IS.“ Für Giffey ist die Konsequenz klar: „Deshalb wollen wir und müssen wir ihnen helfen. Es ist auch die Verantwortung des Staates, das Wohl dieser Kinder zu sichern.“

Doch bislang ist wenig passiert. Lange überließ die Bundesregierung die Kinder ihrem Schicksal. Politisch schien man mit der Rückholung nichts gewinnen zu können. Mehr als 120 deutsche Kinder zählt das Innenministerium derzeit allein in nordsyrischen Lagern wie Al-Hol. Beobachter sprechen von völliger Überbelegung, katastrophalen hygienischen Bedingungen, nur minimaler medizinischer Versorgung.

Getrunken werde mit Würmern verseuchtes Abwasser, weil es kein sauberes gibt. 390 Kinder sollen in Al-Hol in diesem Jahr gestorben sein, an Unternährung, Infektionen und anderen Krankheiten, vermeldete jüngst der UN-Menschenrechtsrat.

Das erhöhte zuletzt noch einmal den Druck auf die Bundesregierung, die Kinder zurückzuholen. Angehörige schrieben zudem einen offenen Brief an Seehofer und demonstrierten im Frühjahr in Berlin. Das Berliner Verwaltungsgericht setzte ein Zeichen. Es verpflichtete die Bundesregierung im Juli, eine deutsche IS-Frau und ihre Kinder zurückzuholen.

Eine staatliche Schutzpflicht

Die Bundesrepublik habe eine „staatliche Schutzpflicht“, die Zustände in Al-Hol stellten „eine Bedrohung für Leib und Leben“ dar. Die Bundesregierung ging in Berufung. Die letztinstanzliche Entscheidung trifft in Kürze das Oberverwaltungsgericht. Bleibt es der Linie des Verwaltungsgerichts treu, dürften nun auch IS-Frauen mit Kindern zurückgeholt werden.

Im August waren es neben dem siebenjährigen Yahya zwei Schwestern im Alter von zwei und vier Jahren, auch sie Waisen, die zurückgeholt wurden, und ein kleines Mädchen namens Sofia, noch kein Jahr alt, das wegen seines Wasserkopfes dringend medizinisch behandelt werden musste. Man sei gut vorbereitet gewesen, sagt Hessens Innenminister Peter Beuth von der CDU der taz. „Um traumatisierte Kinder müssen wir uns in einer besonderen Form kümmern. Sie haben in einem ideologischen Wahn gelebt und nur Elend und Krieg gesehen.“ Es gehe darum, die Kinder „ganzheitlich zu betreuen“.

Yahyas Großmutter hatte sich früh an die Behörden gewandt, letztlich auch das Sorgerecht bekommen. Noch in Syrien wurde mit einem DNA-Test die tatsächliche Verwandtschaft des Enkels überprüft. Parallel vernetzten sich in Hessen die Behörden: das Jugendamt, soziale und psychologische Dienste, das Landeskriminalamt, Deradikalisierungsspezialisten vom Violence Prevention Network.

Bereits am Frankfurter Flughafen wurde Yahya von erfahrenen Mitarbeiterinnen des Jugendamtes begutachtet. Wie ist sein Gesundheitszustand? Hat er Verletzungen? Wie reagiert er auf Ansprachen, wie auf seine Oma? Dann durfte Yahya mit seiner Großmutter weiterreisen. Heute lebt er an einem abgeschirmten Ort in Hessen. Alle Behörden schweigen eisern zu seinem Fall: Das Kindeswohl habe Vorrang.

Kinder sind stark traumatisiert

Auch Dirk Schoenian, der Anwalt von Yahyas Großmutter, der lange mit der Bundesregierung um eine Rückkehr des Jungen stritt, äußert sich nur knapp. „Dem Jungen geht es gut.“ Natürlich sei er traumatisiert. Er habe viel Elend erlebt, habe seine Mutter und Schwester verbluten sehen, als diese bei einem Bombenangriff auf Baghuz von Splittern getroffen worden seien. „Diese Erlebnisse zu verarbeiten, wird lange dauern.“

Für Schoenian aber ist das Wichtigste erreicht: Dass Yahya endlich raus aus dem Lager und wieder in Deutschland ist. „Die Bundesrepublik hat hier viel zu lange keine Verantwortung übernommen“, kritisiert der Anwalt. Auch im Fall von Yahya habe dies fatale Folgen gehabt: Sein Bruder, anderthalb Jahre alt, sei in Al-Hol verschwunden, bis heute wisse man nicht, was mit ihm geschah. „Das hat die Bundesregierung mit verschuldet“, sagt Schoenian. Dabei sei klar: Der deutsche Staat habe eine Pflicht, das Leben seiner Staatsbürger zu schützen. „Dem muss er endlich nachkommen.“

Manuela Skotnig, Jugendamt

„Wir müssen die ideologischen Hintergründe im Blick behalten – aber die Gesinnung ist nicht unser Hauptfokus“

Eine Stelle, an der das schon geschieht, ist das Frankfurter Jugendamt. Dessen Mitarbeiterinnen waren es, die Yahya am Flughafen untersuchten. Bei etwa einem Dutzend zurückgekehrter Kinder habe man bisher diese Akuteinschätzung vorgenommen, sagt Manuela Skotnik, Sprecherin des Jugendamtes. In der Regel erhalte man schon vor der Ankunft Informationen zu den Kindern, nehme Kontakt zu den in Deutschland lebenden Angehörigen und den Jugendämtern vor Ort auf.

Das Frankfurter Amt prüft auch, ob die Angehörigen als Bezugspersonen in Betracht kommen. Schon im vergangenen Jahr kamen erste Kinder aus dem Irak, wo die deutsche Regierung, anders als in Syrien, noch eine Botschaft unterhält und leichter verhandeln kann. Dazu kommen Heranwachsende, deren Mütter mit ihren Kindern auf eigene Faust Syrien verlassen konnten.

„Kinder, die Schlimmes erlebt haben, sind für uns Alltag“, sagt Skotnik. Auch Flüchtlingskinder kämen mit Traumata nach Deutschland, genauso müsse man sich um Kinder kümmern, die in Deutschland misshandelt wurden oder verwahrlost sind. Die Kinder aus den IS-Familien seien „erst einmal nur eine weitere Facette unserer Arbeit“. Auch hier gehe es darum, sie zu stabilisieren, ihnen ihre Ängste zu nehmen, eine Bindung an die Bezugspersonen zu stärken. „Genau dafür haben die Jugendämter ja das Handwerkszeug“, sagt Skotnik.

Aber: Schon heute sind die Jugendämter überlastet. Auch Skotnik räumt das ein. In einer Großstadt wie Frankfurt sei die Betreuung einiger Kinder von IS-Angehörigen sicher handhabbar, sagt sie. „Bei Jugendämtern in der Provinz könnte das schon schwieriger werden.“

Und die Behörden sind nun mit einer neuen Komponente konfrontiert: der IS-Ideologie. In den Lagern in Syrien haben zum Teil Fanatiker der Terrorgruppe das Sagen, Insassen radikalisieren sich und schwören Kinder auf den IS ein. Videos aus dem Al-Hol-Lager zeigten zuletzt auch Kinder, zwischen acht und zwölf Jahren, die den IS priesen und Tötungen von „Ungläubigen“ rechtfertigten.

Manuela Skotnik sagt dazu nur: „Wir sind nicht die Gesinnungspolizei. Wir schauen, wie sich die Kinder entwickeln und wie sie agieren. Das ist unsere Aufgabe, nicht die Ideologie der Eltern.“ Natürlich könnten auch Kinder zur Gefahr für andere werden, das könne aber viele Ursachen haben. „Wir müssen die ideologischen Hintergründe im Blick behalten – aber die Gesinnung ist nicht unser Hauptfokus.“

Nähe, Schutz und Bindungssicherheit

Jemand, der sich damit auskennt, ist İlhan Kızılhan. Der Psychologe ist Professor an der Dualen Hochschule Villingen-Schwennigen in Baden-Württemberg und Fachmann für transkulturelle Psychiatrie und Traumatologie – und eine Koryphäe. Beim Thema IS-Rückkehrer steht Kızılhan mit staatlichen Stellen in Kontakt. Zuletzt beriet er Baden-Württemberg bei der Aufnahme von Jesidinnen und ihren Kindern, die vor dem IS geflohen waren. Derzeit pendelt er zwischen Villingen-Schwennigen und dem irakischen Dohuk, wo Kızılhan mit Kollegen Psychotherapeuten ausbildet, die vom IS-Terror traumatisierte Frauen und Kinder behandeln.

Auch für Kızılhan ist klar: Die Kinder der IS-Leute müssen nach Deutschland geholt werden – und zwar so schnell wie möglich. „Je länger die Kinder da sind, desto schwerer ist es, die seelischen Wunden zu heilen.“ Sind die Kinder wieder in Deutschland, hänge es vom Alter ab, wie man mit ihnen umgehen solle.

Die größte Gruppe seien Kleinkinder im Alter von null bis vier, die meist beim IS geboren sind. Diese Kinder hätten vor allem Unsicherheit erlebt, die Ängste ihrer Mütter, Tränen, Verzweiflung. „Dieses Gefühl bleibt.“ Kleinkinder seien für eine Psychotherapie aber noch zu jung, sagt Kızılhan. „Bei ihnen geht es vor allem um Nähe und Schutz. Sie brauchen Bindungen.“ Sonst könne aus ihren Erfahrungen eine psychologische Störung mit möglicherweise schweren Folgen werden.

Anders sei es, so Kızılhan, wenn die Kinder schon älter seien und kognitiv mehr aufgenommen hätten. Insbesondere Jungen ab elf oder zwölf Jahren könnten von hochideologisierten Eltern bereits indoktriniert worden sein. „Aber auch diese Kinder kann man begutachten und betreuen“, sagt Kızılhan. Hier sei langfristige Begleitung gefragt. „Da muss man nicht gleich Terrorfantasien bekommen.“

Kleine Netzwerke bauen

Kızılhan stimmt Manuela Skotnik vom Frankfurter Jugendamt zu: Die Jugendämter seien für die Arbeit mit den Rückkehrer-Kindern grundsätzlich gut aufgestellt. „Sie haben das Handwerkzeug. Wir müssen sie nur sensibler machen und gezielt fortbilden.“ Auch sollten die Kinder möglichst schnell in Kitas oder Schulen gehen – so wie Yahya. „Das bietet Sicherheit und Orientierung, das ist besser als Psychotherapie“, sagt Kizilhan. Doch auch hier müssten die betroffenen LehrerInnen und ErzieherInnen geschult werden. „Man muss um die einzelnen Personen kleine Netzwerke bauen.“

Claudia Dantschke ist eine, die solche Netzwerke baut. Sie leitet die Beratungsstelle Hayat in Berlin, die seit Jahren mit Familien arbeitet, in denen sich Angehörige radikalisieren. Manche von ihnen sind zum IS oder anderen Dschihadistengruppen ausgereist, einige bereits wieder zurück. Dantschkes Team betreut derzeit 15 Erwachsene und 16 Kinder, die heimgekehrt sind. Eines der Kinder ist Sofia, das schwer kranke Baby, das im August gemeinsam mit Yahya aus Al-Hol geholt wurde. Sie ist nun in Deutschland im Krankenhaus, die Mutter immer noch in dem Lager in Nordsyrien – sie hatte um die Zurückholung ihres Kindes gebeten.

Claudia Dantschke, Beraterin

„Es werden Kinder zurück-kommen, die Extremes erlebt haben“

Zu Einzelfällen will auch Dantschke nichts sagen. Die Kinder, die Hayat betreue, seien aber zwischen null und neun Jahre alt, manche schon mehr als ein Jahr hier, andere, wie Sofia, relativ frisch. „In keinem von diesen Fällen sind die Kinder auffällig, Probleme haben wir bislang nicht“, sagt Dantschke. Die meisten Kinder gingen bereits in Kitas oder Schulen. Psychologisch behandelt würden sie nicht. „Aber das Jugendamt ist dran und muss auch langfristig dran bleiben.“

Schwieriger wird es, befürchtet Dantschke, mit den Kindern, die noch länger in den Lagern lebten. Zum einen seien da die Mangelernährung, gesundheitliche Probleme und Entwicklungsverzögerungen Thema. Zum anderen aber auch die schlimmen Erfahrungen, die die Kinder erst beim IS und dann in den Lagern machten. „Es werden Kinder zurückkommen, die Extremes erlebt haben“, sagt Dantschke. „Damit muss man umgehen.“

Dantschke weiß aber auch, dass die IS-Hardliner zum Teil Jungen ab zehn oder zwölf Jahren in Trainingslager steckten, damit sie im Sinne der Terrororganisation ideologisch und an der Waffe geschult werden. Kinder übernahmen auch Botengänge, kochten, versorgten Frontkämpfer medizinisch oder übten Spionagetätigkeiten aus. Einige wurden gar bei Hinrichtungen für Propagandavideos eingesetzt. Aus Dantschkes Sicht sind das absolute Ausnahmen. „Wir von Hayat kennen 65 der Kinder, die derzeit noch in Syrien sind. Von denen wissen wir ziemlich sicher, dass keines in einem IS-Trainingslager war.“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Auch weil ein stabiles Umfeld für die Kinder so wichtig ist, arbeitet Hayat eng mit den in Deutschland lebenden Familien zusammen – oft sind es Großeltern, manchmal auch Onkel und Tanten oder auch die Väter der Kinder, wenn die Mutter mit einem neuen Partner ausgereist ist. Im Umgang mit den Kindern hänge vieles von Müttern, den IS-Frauen, ab, sagt Dantschke. Haben sie sich vom IS distanziert? Sind sie im Lager wieder radikalisiert worden? Sind sie traumatisiert? Haben sie Straftaten begangen?

Von all dem hänge ab, ob das Jugendamt auch dann Zugang zu den Kindern erhält, wenn die Familien selbst das nicht wollen, so Dantschke. Dann, wenn eine Gefährdung des Kindeswohls nachweisbar ist. Und natürlich auch, wenn Frauen, die nach Deutschland zurückkommen, gar nicht in der Lage sind, für ihre Kinder da zu sein: Dantschke weiß von sechs Haftbefehlen gegen Frauen, die derzeit noch in Syrien und im Irak sind.

Susanne Wittmann vom Projekt Grenzgänger in Bochum arbeitet ganz direkt und alltäglich mit IS-Frauen und ihren Kindern zusammen, die bereits wieder in Deutschland sind. Das jüngste der Kinder ist ein Jahr alt, das älteste zwölf. Wittmann und ihre MitarbeiterInnen gehen direkt in die Familien der IS-Rückkehrer, fahren dafür quer durchs Bundesland. Komme ein Kind zurück, sei man anfangs mindestens eine Woche mit in der Familie, erzählt sie. Der Austausch mit dem Jugendamt sei sehr eng. Die Familien und einstigen IS-Anhänger, die zu Wittmann kommen, tun dies freiwillig.

Große Hürde: öffentliches Stigma

Bei den Kindern gehe es vor allem um ein Sicherheitsgefühl, berichtet Wittmann. „Dass sie wieder eine Nacht durchschlafen, ohne Angst vor Gewalt oder Bomben. Erst wenn diese Sicherheit da ist, dann können die Kinder anfangen zu lernen.“ Bei den Kindern, die sie betreue, klappe das bisher gut. „Die Kinder kommen im Alltag zurecht. Manche stecken das Erlebte erstaunlich gut weg.“ Dieser Eindruck könne aber auch täuschen, sagt Wittmann. „Manches Trauma zeigt sich erst nach Jahren. Auch die Pubertät wird hier noch mal entscheidend.“

Aus dem Bamf heißt es: Die Koordination werde wichtig, wenn größere Zahlen an Frauen und Kinder in Deutschland eintreffen – womit man rechnet. Wann das aber geschehen wird, ist weiter offen

Laut Wittmann gibt es für alle Kinder der IS-Angehörigen eine enorme Hürde: das öffentliche Stigma. „Es gibt eine allgemeine Angst, dass das alles kleine Gefährder sind. Das macht es gar nicht so leicht, eine Schule zu finden – obwohl die Lehrer ja genau wissen, wie sie auch mit schwierigen Kindern umzugehen haben. Aber hier schrecken viele dann doch zurück.“ Wittmann leistet deshalb viel Aufklärungsarbeit, geht an Schulen, erklärt, wie Radikalisierungen verlaufen – und wie sie auch wieder abbaubar sind. Bislang hat Wittmann am Ende für alle Kinder einen Kita- oder Schulplatz gefunden. Aber: Nicht in allen Fällen wurden die Einrichtungen aufgeklärt, woher die Kinder kommen. „Das ist nicht optimal, aber für die Kinder manchmal das Beste“, sagt Wittmann.

Auch Claudia Dantschkes Team in Berlin überlegt inzwischen genau, wann LehrerInnen und ErzieherInnen einbezogen werden. In einem Fall, wo die Lehrerin informiert worden sei, sei ein Kind schnell für Probleme verantwortlich gemacht worden, mit denen es höchstwahrscheinlich gar nichts zu tun hatte, erzählt sie.

Handlungsempfehlungen von staatlicher Seite für all das fehlen bislang. Zwar beschloss die Konferenz der Jugend- und FamilienministerInnen der Länder bereits im Mai 2018, den Jugendämtern solche für den Umgang mit „radikalisierten Familien“ vorzulegen. Die Ämter bräuchten schließlich „Sicherheit bei der Wahrnehmung des Schutzauftrags“. Doch diese Empfehlungen liegen bis heute nicht vor.

Dafür startete im Frühjahr ein Projekt des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge: Sogenannte „Rückkehrkoordinatoren“ sollen wieder in Deutschland befindliche IS-AnhängerInnen und ihre Kinder betreuen, und die Ämter um sie herum vernetzen. In sechs Ländern treten die Koordinatoren gerade ihre Arbeit an. Mit dabei ist auch Hessen, wo sich ein Politologe, angedockt an das Landeskriminalamt, auch um den Fall Yahya kümmert. Aus dem Bamf heißt es: Die Koordination werde wichtig, wenn größere Zahlen an Frauen und Kinder in Deutschland eintreffen – womit man rechnet. Wann das aber geschehen wird, ist weiter offen.

Yahya zumindest hat es nach Deutschland geschafft. „Er hat das Glück, dass sich seine Großeltern so engagiert um ihn kümmern“, sagt Rechtsanwalt Dirk Schoenian. Yahya geht mittlerweile wieder zur Schule, lernt Deutsch, sucht Normalität. Der Junge lebt sich langsam wieder ein – in seiner neuen, alten Heimat.

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