Berlin als Radfahrer-Paradies: From New York with Love

Der New Yorker Ethan Wolff-Mann war als Austauschjournalist bei der taz und hat in Berlin ein Paradies für RadfahrerInnen gefunden.

Ein Fahrradfahrer auf einer Straße in New York

If you can make it there … eigenwilliger Radler im Straßenverkehr von New York City Foto: Lucas Landau/reuters

Das Jahr ist noch lange nicht vorbei, aber in New York City sind schon fast doppelt so viele FahrradfahrerInnen ums Leben gekommen wie 2018. Der Tod von bislang 19 Unfallopfern geht auf das Konto von Pkws und Lastwagen, aber auch auf das einer überkommenen Verkehrskultur und einer Stadt, die sich weigert, die Rolle von Autos neu zu bewerten, obwohl immer mehr Menschen auf zwei Rädern unterwegs sind.

New York ist meine Stadt und ich liebe sie. Aber nach einem Monat in Berlin weiß ich schon, dass ich diesem Fahrradparadies nachtrauern werde. Dabei haben viele BerlinerInnen, mit denen ich spreche, erstaunlicherweise nur Spott für die hiesige Radinfrastruktur übrig. „Ist halt nicht Kopenhagen“, sagen sie und träumen dabei von einer Zauberwelt im Norden, die ich mir gar nicht richtig vorstellen kann. Ich muss ihnen glauben, weil ich noch nie in Dänemark war. Aber Berlin habe ich ausführlich mit dem Rad erkundet – und ich staune immer noch über seine Vorzüge.

Ja, viele Radspuren hier sind nur Farbe auf dem Asphalt und bieten nicht den Schutz einer vollständigen Trennung vom Autoverkehr. Und, auch das stimmt, manche Hauptstraßen haben nicht einmal aufgemalte Streifen.

Aber auch wenn es mit der Infrastruktur noch hapert, kann Berlin klar punkten. Erstens: Praktisch überall auf der Welt ist es verboten, zu rasen und rote Ampeln zu überfahren – nur halten sich hier auch die meisten Autofahrer daran, und die Polizei nimmt ihre Rolle ernst, diese Regeln einzufordern. Wer das Privileg missbraucht, in einem Auto zu sitzen, riskiert Konsequenzen.

Berlin Im Jahr 2019 starben laut ADFC bisher drei Fahrrad­fahrer*innen im Straßenverkehr. Im Jahr 2018 waren es elf. In den vergangenen Jahren kam es jährlich zu rund 5.000 Unfällen mit Verletzten. Laut einer Umfrage benutzten 2016 rund 15 Prozent der Berliner*innen hauptsächlich das Fahrrad. Das entspricht bis zu 500.000 Fahrten pro Tag. Laut Verkehrsministerium fahren 11 bis 13 Prozent der Hauptstädter*innen Fahrrad. Daten der Fahrradverkehrszählstellen konstatieren einen anhaltenden Anstieg. Demnach seien in Berlin derzeit so viele Radfahrer unterwegs wie zuletzt in den fünfziger Jahren. Geht man von 320.000 Pendler*innen insgesamt aus, entsprechen 15 Prozent 48.000 Personen.

New York Nach Schätzungen gibt es in New York bei größerer Einwohnerzahl (NY City: 8,6 Millionen – Berlin 3,8 Millionen) ähnlich viele Radfahrten und Verletzte: 2017 endeten 4.800 Unfälle mit Verletzungen, 24 tödlich. Täglich gab es rund 480.000 Fahrten. 2005 waren es noch 160.000. Bürgermeister Bill de Blasio, Verfechter des Rads, strebt einen Fahrradanteil von 6 Prozent an. Derzeit pendeln dort 48.000 Personen auf dem Zweirad. Innerhalb der USA gilt New York als fahrradfreundlich. (gjo)

Obwohl Deutschland ein klassisches Autoland ist, scheinen die meisten FahrerInnen ein Bewusstsein davon zu haben, welche Stärke ein Anderthalb-Tonnen-Gefährt ihnen verleiht. Ein Aussetzer der Konzentration, ein paar Stundenkilometer zu viel, eine Ablenkung – all das kann Menschen töten. Und es tötet Menschen, gerade in New York.

Auf der anderen Seite des Atlantiks wird gerast, werden Ampeln ignoriert und Radspuren blockiert. Der Polizei scheint es egal zu sein, sie verletzt die Regeln oft genug selbst. Es gibt Social-Media-Accounts, die Fotos von auf Radwegen parkenden Streifenwagen sammeln.

Die Autos dürfen rasen

Wenn wieder einmal eine RadfahrerIn auf der Straße umgekommen ist, gibt es eine Zeit lang mehr Strafzettel. Für FahrradfahrerInnen. Wir nennen das „bike lash“, als Wortspiel zu „backlash“. RadlerInnen werden angehalten und für kleine Vergehen zur Rechenschaft gezogen, während die Pkws vorbeirasen. Ob die Bußgelder rechtens sind, scheint die Polizei wenig zu kümmern. Vor Gericht werden die Vorwürfe oft fallengelassen.

Zwei Fahrradtote in New York sind mir als Beispiel dafür im Kopf geblieben, was in meiner Stadt komplett falsch läuft: einmal ein 29-Jähriger, der von einem Zementlaster auf einer Straße erfasst wurde, wo Lkws gar nicht fahren durften. Erfahrungsgemäß kontrolliert die Polizei so etwas selten. Der Fahrer ging straffrei aus und sagte gegenüber einer Lokalzeitung, es seien eben „zu viele Fahrräder unterwegs“. In den Vereinigten Staaten liegt die Schuld immer beim Opfer – weil dieses ja keinen Helm getragen habe, wie es oft heißt. Dabei hilft ein Helm herzlich wenig, wenn man von einem Laster überrollt wird.

Beim jüngsten Fall überfuhr ein Auto mit hoher Geschwindigkeit eine rote Ampel, rammte ein anderes Auto, dieses überschlug sich und tötete einen Radfahrer. Der Mann hatte überhaupt keine Chance. Wegen solcher Unfälle haben viele Menschen in den USA Angst, auf ein Fahrrad zu steigen. Hier dagegen wird Fahrradfahren nicht als gefährlich wahrgenommen, und ich liebe das an Berlin. Die Leute fahren im Kleid, im Anzug oder mit Sandalen. Ältere Menschen fahren Rad.

An meinem ersten Tag in der Stadt beobachtete ich 7- oder 8-jährige Kinder, die hinter ihren Eltern Fahrrad fuhren. Ich war sprachlos: Eltern, die genug Vertrauen in den Verkehr haben, um ihre Kinder auf vielbefahrenen Straßen fahren zu lassen! Überlegen Sie mal, wie schön das ist.

Für mich hat Radfahren in Berlin etwas Unaufgeregtes, es ist nicht die Serie von Nahtoderfahrungen, wie ich sie aus New York kenne. Eine Ausnahme gab es dann aber doch: Ich war auf der Rochstraße in Mitte unterwegs, wo ein Lieferwagen in zweiter Reihe parkte. Der Fahrer schaute auf seinen Schoß, wo wahrscheinlich Dokumente lagen, und fuhr ohne zu gucken los. Ich musste einen heftigen Schlenker machen. Als er mich sah, bremste er scharf und machte eine entschuldigende Geste. Beim Weiterfahren merkte ich, dass ich gerade zum ersten Mal seit einem Monat Angst beim Radfahren gehabt hatte.

Eltern, die genug Vertrauen in den Verkehr haben, um ihre Kinder auf vielbefahrenen Straßen fahren zu lassen! Überlegen Sie mal, wie schön das ist.

Berlin ist vielleicht noch nicht Kopenhagen, aber es schadet auch nicht anzuerkennen, was schon erreicht wurde, und sei es nur für einen kurzen Augenblick. Wenn der vorbei ist, kann man ja weiterarbeiten an der Stadt, die ihre BewohnerInnen und RadfahrerInnen sich wünschen.

Zum Autor: Ethan Wolff-Mann (30) ist Redakteur bei Yahoo! Finance in New York. Im Sommer 2019 arbeitete er im Rahmen des Arthur-Burns-Stipendiums für Journalist*innen bei der taz in Berlin. Er schreibt über Verbraucherfragen und Finanzthemen – und fährt täglich Fahrrad in New York.

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