Kinofilm „Idioten der Familie“: Geschwister im Spinnennetz

Michael Klier zeigt Geschwister in alten Rollenmustern bei einem Familientreffen. Erzählt wird nicht melodramatisch, sondern präzise und zugleich beiläufig.

Eine Frau zupfelt einer anderen Frau am Hemd-Träger

Keine unschuldige Geschwisterliebe weit und breit (Filmstill) Foto: Nadja Klier

Der Anlass für das Familientreffen ist nicht erfreulich: Nachdem sie sich jahrelang auseinandergelebt haben, kommen fünf Geschwister – drei Männer und zwei Frauen – im Elternhaus zusammen. Dort haben bisher die beiden Schwestern gelebt: Heli (Jördis Triebel) ist Künstlerin, hat aber Jahre nichts mehr gemalt, weil sie damit beschäftigt war, sich um das Nesthäkchen der Familie zu kümmern. Die jüngste Schwester Ginnie (Lilith Stangenberg) ist geistig behindert und braucht ständige Aufsicht. Heli möchte sie im Heim unterbringen, um selbst wieder Freiräume zu haben. Am letzten Wochenende, das Ginnie im alten Zuhause verbringt, kommen die Brüder zu Besuch, um sie zu verabschieden.

Filmisch wäre es üblich, diese Situation als Melodram zu verarbeiten, aber genau das tut Michael Klier nicht. Er erzählt dieses Wochenende einer Familie in einer dezidiert undramatischen Mischung aus Präzision und sanfter Beiläufigkeit. Präzise, weil wenige Dia­log­zeilen ausreichen, die Rollen zwischen den Geschwistern und ihre so verschiedenen Charaktere zu verdeutlichen.

Beiläufig, weil darüber hinaus das Beziehungsgeflecht zwischen den Personen natürlich durch Details in ihrem Verhalten – und dem, was die unaufdringliche Kamera von Patrick Orth scheinbar nebenbei mitnimmt – offengelegt wird und dabei Platz für Vieldeutigkeiten und Unerklärtes entsteht.

Musik spielt eine große, reichlich zwiespältige Rolle. Offenbar war der Vater der Geschwister Musiker. Ansonsten erfährt man kaum etwas über die verstorbenen Eltern, was sicher Gründe hat, denn das einzige Mal, als über sie gesprochen wird, kommt es prompt zum Streit. Gesprächsweise kommt heraus, dass der älteste Bruder Frederik (Kai Scheve) als Kind zum stundenlangen Üben auf dem Instrument gezwungen wurde. Nun ist er erfolgreicher klassischer Klarinettist, ein Angeber mit Porsche.

„Idioten der Familie“. Regie: Michael Klier. Mit Lilith Stangenberg, Jördis Triebel u. a. Deutschland 2018, 102 Min.

Der jüngere Bruder Tommie (Hanno Koffler) dagegen, der diesen Druck in der Kindheit nicht hatte, ist Jazzsaxofonist geworden und schlägt sich so durch. Der einzige Nicht-Künstler in der Familie, Bruno (Florian Stetter), hat etwas Sozialwissenschaftliches studiert, das die anderen immer vergessen, und kann auch nichts dafür, dass zwischen ihm und der Welt die Distanz der permanenten Analyse liegt. Am undurchschaubarsten ist die fast stumme Ginnie, der Lilith Stangenberg eine solche Präsenz verleiht, dass man binnen Kurzem vollständig vergisst, die Volksbühnen-Schauspielerin in ihr zu sehen.

Nähe und körperliche Vertrautheit liegt in den geschwisterlichen Beziehungen. Aber letztlich sind sich die Geschwister alle selbst der Nächste und verschwenden an die Bedürfnisse der anderen kaum Gedanken. Bei aller Vertrautheit kann physische Nähe auch Machtspielchen begünstigen, sexuelle Begehrlichkeit und Übergriffigkeit enthalten. Das geht kreuz und quer, mal angedeutet, mal grenzüberschreitend. Keine unschuldige Geschwisterliebe weit und breit.

Eine Jamsession zum Abschluss ist ein schöner Familienmoment, aber die selbstvergessene Gemeinsamkeit in der Musik ist nur oberflächlicher Kitt, die guten Vibes sind ein Täuschungsmanöver, das hilft, den bevorstehenden kollektiven Akt emotionaler Grausamkeit vergessen zu machen. Kunst macht Leute nicht zu besseren Menschen. Manchmal aber hilft sie, das zu verstehen. So wie dieser Film.

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