Luiz Ruffato über Bolsonaro: „Das gab es noch nie“

Seine Eltern konnten nicht lesen, er wurde zum Star-Autor Brasiliens. Luiz Ruffato erzählt von politischem Analphabetismus und dem Regenwald.

Luiz Ruffato lächelt in die Kamera. Er trägt eine eckige Brille mit dickem schwarzen Rahmen und hat kaum noch Haar. Im Hintergrund stehen viele Pflanzen mit großen Blättern

Brasiliens Star-Schriftsteller Luiz Ruffato glaubt nicht, dass Bolsonaro die Amtszeit durchhält Foto: dpa

taz am wochenende: Luis Ruffato, Sie sind Schriftsteller. Sie äußern sich aber auch sehr dezidiert über Politik.

Luiz Ruffato: Ich würde lieber meine Bücher schreiben und nur darüber reden. Aber die Lage in Brasilien hat sich über die Jahre sehr verschlechtert und zugleich haben nur wenige Leute klar Stellung dazu bezogen. 2013 hatte ich mit der Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse die Chance dazu. Dafür wurde ich in meiner Heimat ex­trem kritisiert. Es hieß: Es geht uns doch endlich mal richtig gut, und du sagst, alles ist schlecht. Aber wenn man durch die Straßen spaziert und die Augen aufmacht, ist klar, dass eben nicht alles gut ist.

Warum positionieren sich so wenige?

Aus Furcht. Der Kulturbetrieb ist sehr prekär. Der größte Teil der Finanzierung kommt vom Staat. Und da viele von ihm abhängen, kritisieren sie diesen nicht öffentlich. Denn das kann Konsequenzen haben. Wie bei mir zum Beispiel. Seit 2013 hat sich keine brasilianische Botschaft mehr für eine meiner Lesungen zur Verfügung gestellt, auch hier in Deutschland nicht. Künstler*innen sagen von daher gerne: Was ich über Brasilien zu sagen habe, steht in meinen Büchern oder hört ihr in meiner Musik oder seht ihr in meinen Filmen. Aber ich denke, dass ein Intellektueller außer in seiner Kunst auch eine wichtige Rolle durch Kritik spielen sollte, gerade in einem Land wie Brasilien.

Derzeit ist Brasilien wegen der verheerenden Waldbrände in Amazonien weltweit in den Schlagzeilen. Was bedeutet Amazonien, ein Territorium, das fast zwei Drittel der Fläche ausmacht, für Brasilien?

Amazonien ist noch immer ein von Menschen weitgehend unberührtes riesiges Gebiet, das um jeden Preis erhalten werden muss. Sonst überlebt die Menschheit auf der Erde nicht. Ich denke aber nicht, dass es unter internationale Verwaltung gestellt werden sollte, wie manche fordern. Wir Brasilianer müssen uns der Wichtigkeit dieses Ökosystems bewusst werden. Und dagegen kämpfen, dass inkompetente Machthaber, wie Jair Bolsonaro, es für die Interessen des Agrargeschäfts und des internationalen Kapitals opfern.

geb. 1961 in Cataguases, Minas Gerais, Brasilien. War Schlosser, studierte Journalismus. Seine Bücher erscheinen, übersetzt von Michael Kegler, im Verlag Asso­ziation A. Am 12. 9. liest er beim Literaturfestival Berlin.

Denn auch die europäischen, nordamerikanischen und asiatischen Konsumenten sind verantwortlich für die Zerstörung Amazoniens. Sie kaufen günstig Holz, Zucker, Soja und Fleisch, für deren Anbau die Unternehmen völlig unkontrolliert in den Regenwald einmarschieren. Das große Problem in Bezug auf die Umwelt ist heute, dass die wichtigsten Regierungschefs auf der Welt, Donald Trump, Wladimir Putin, Xi Jinping, nur Verachtung für ökologische Fragen übrig haben. Sie wollen ihren politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Einfluss erweitern, ohne sich um die Zukunft des Planeten zu sorgen.

Was derzeit in Brasilien unter Präsident Bolsonaro vor sich geht, haben Sie auch im Frühjahr in einem Vortrag an der Berliner Volksbühne skizziert: vor allem Chaos

Niemand, nicht einmal seine Unterstützer, hätten gedacht, dass Bolsonaro so schlecht regieren würde. Wann immer jemand aus seinem Kabinett etwas verkündet, spricht er sich dagegen aus, wenn es ihm persönlich nicht passt. Finanzminister Paulo Guedes wollte die Kirchensteuer einführen, Bolsonaro sagte Nein. Dieselkraftstoff sollte verteuert werden, Bolsonaro sprach sich dagegen aus, obwohl er zugleich staatlichen Interventionismus per se ablehnt.

Er ist schlecht für die Industrie, den Handel, die Agrarbranche, von den sozialen Bewegungen gar nicht zu reden. Ich denke aber, die große Opposition, die Bolsonaro schließlich zu Fall bringen wird, wird nicht aus Brasilien kommen, sondern von internationalen Kapitalgruppen, die sich Sorgen um ihre Gewinne machen.

Sollte Bolsonaro gehen, wäre dann das Problem gelöst?

Nein, leider nicht. Dafür ist er zu unwichtig. Bolsonaro flog in die USA und brachte Visumerleichterungen mit – für US-Bürger! Ohne Gegenleistung! Danach flog Vizepräsident Hamilton Mourão noch einmal hin und verhandelte neu. Das gab es noch nie. Den Präsidenten schickt man nach Hause, und mit dem Vizepräsident verhandelt man! Aber General Mourão ist nicht ohne Grund als Vizepräsident installiert worden.

Inwiefern?

Die Verfassung sagt, dass, wenn der Präsident vor Ablauf von zwei Jahren zurücktritt, innerhalb von sechs Monaten Neuwahlen ausgerichtet werden müssen. Dafür zuständig wäre dann Mourão, ein General der Armee. Und wer sagt denn, dass der dann, statt Neuwahlen auszurichten, nicht sagt: Leute, die Situation ist zu kompliziert, die Wahlen fallen leider aus. Es wäre nicht der erste Militärputsch in der Geschichte des Landes.

Das halten Sie für denkbar?

Ein anderes Szenario wäre: Bolsonaro tritt erst in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit zurück, oder er wird entfernt. Dann würde Mourão direkt Präsident. Dass Bolsonaro bis zum Ende seiner Amtszeit regiert, halte ich für weniger wahrscheinlich.

Sie beklagen einen „politischen Analphabetismus“ in ihrem Land. Eine Art Politikverdrossenheit, gepaart mit schlichter Unfähigkeit, Politik zu verstehen. Auch weil eine Mehrheit sich noch immer ums bloße Überleben kümmern muss. Könnte man daraus folgern, dass die Menschen nicht reif für die Demokratie sind?

Nein, im Gegenteil. Das demokratische System muss allen Menschen die Grundlagen dafür bereitstellen, dass alle mitmachen können. Lula hatte das als Präsident versucht. Er hat die Armut bekämpft und einen fundamentalen Schritt gemacht. Aber den allgemeinen Zugang zu qualitativer Bildung, den Zugang zu Informationen, der wichtig ist, um über die Welt reflektieren zu können, hat er leider nicht geschaffen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Leute erinnern sich alle vier Jahre daran, dass sie wählen sollen. Aber Politik ist die tägliche Ausübung von Rechten und Pflichten. Der politische Analphabet ist nicht Subjekt, sondern Objekt der Geschichte. Man kann also nicht sagen, dass diese Menschen ihre demokratischen Rechte nicht richtig ausüben, sondern sie werden daran gehindert, ihre Rechte ausüben zu ­können.

Bolsonaro hat angekündigt, den Gesellschaftswissenschaften an den Universitäten weitere Mittel zu entziehen. Sie seien im Vergleich zu den technischen Disziplinen überflüssig.

Bolsonaro ist ein sehr mediokrer Mensch. Er liest selber nicht. Sonst wüsste er, dass Philosophie für alle Wissenschaften eine entscheidende Rolle spielt. Nur durch das Philosophieren sind die Menschen darauf gekommen, Flugzeuge zu bauen oder Geschäftsideen zu entwickeln. Aber das sind Diskussionen, denen ich mich verweigere, es ist Zeitverschwendung: Denn wer Philosophie betreiben will, wird das tun. Und die Geisteswissenschaften bekommen ohnehin so wenig Mittel, dass es keinen Unterschied machen wird.

Es ist reine Symbolpolitik, um abzulenken von wirklich wichtigen Inhalten. Genauso wie der Spruch „Ab heute tragen Mädchen Rosa und Jungs Blau“ von Ministerin Damares Alves, über den sich alle aufgeregt haben. Alles Strategie, alles Ablenkungsmanöver.

Die Figuren in Ihren Romanen kommen häufig von der Peripherie. Sie haben den Anspruch, die Realität der Armen abzubilden. Wer liest denn Ihre Bücher?

Niemand. (lacht) In Brasilien liest niemand. Wirklich niemand. Weder die Unterschicht noch die Mittel- noch die Oberschicht. Für die ist nur wichtig, dass sie das neueste IPhone haben, mit dem sie dann nach Miami fahren. Literatur ist eine Art künstlerischen Ausdrucks, die selbst elitär sein muss. Denn um sie zu betreiben, muss man selbst zunächst mal ein Mindestmaß an Bildung genossen haben. Und auch die Leser müssen ein solches Mindestmaß genossen haben. Im Übrigen: Die Idee, die Literatur zu vereinfachen, um sie für alle verständlich zu machen, halte ich für autoritär.

Dabei benutzen Sie in Ihren Romanen eine einfache Sprache. Die Sprache des Volkes?

Es ist nicht die Sprache des Volkes, sondern die literarische Neuschaffung von Volkssprache. Deshalb habe ich auch keine grammatikalischen Fehler oder Ähnliches eingebaut. Das interessiert mich nicht, das wäre keine Literatur. Man nimmt die Realität und transformiert sie in literarische Realität. Und im besten Fall ist sie dann echter als die Wirklichkeit.

Sie haben von der weißen Elite in Brasilien gesprochen, die ihre Privilegien nicht abgeben will. Wozu gehören Sie?

Es gibt zwei Gruppen von Weißen in Brasilien: Reiche und Arme. Von meiner Herkunft her gehöre ich zu Letzteren. Meine Eltern waren Analphabeten, mein Vater verkaufte Popcorn, meine Mutter arbeitete als Wäscherin. Als armer Weißer habe ich dennoch Zugang zu bestimmten Dingen, die ich als Schwarzer niemals hätte. Bei der Jobsuche hat der schlechter qualifizierte Weiße immer noch einen Vorteil gegenüber einem Schwarzen oder Indigenen. Und Frauen stehen strukturell noch weiter unten in der Bewertungsskala.

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