ORF/ZDF-Film „Balanceakt“: Genaue Prognose unmöglich

„Balanceakt“ erzählt überzeugend realistisch von einer Architektin, die an Multipler Sklerose erkrankt. Julia Koschitz brilliert in der Hauptrolle.

Eine Frau sitzt mit verschränkten Armen in einer Schulklasse

Marie (Julia Koschitz) und Sohn Luis (Jeremy Miliker) bei einem Konzert in der Musikschule Foto: Petro Domenigg

Dustin Hoffman als Autist. Ju­lianne Moore als Demenzkranke. Eddie Redmayne als Stephen Hawking. Krankheiten sind beinahe eine sichere Bank, wenn es für Hollywoodschauspieler darum geht, eine Rolle nach ihrem Oscar-Potenzial auszuwählen. Da können sie ihr Potenzial so richtig entfalten.

Aber wir sind hier nicht in den Hollywood Hills. Sondern auf dem Lerchenberg, in Mainz, wo das ZDF residiert. Und für das Stammpersonal des deutschen Fernsehens gibt es keine Oscars (außer man heißt Christoph Waltz und hat das Glück, Quentin Tarantino zu treffen). Aber es gibt den „Preis für Schauspielkunst“ des Festivals des deutschen Films in Ludwigshafen: ein schöner, wichtiger Preis, und in diesem Jahr geht er an Julia Koschitz, die es mit jedem Oscar-Gewinner aufnehmen könnte, für ihre Rolle in „Balanceakt“ (Buch: Agnes Pluch). Sie spielt darin eine lebensfrohe Architektin, die eine schwere Krankheit ereilt.

Es dauert ganze acht Minuten, bis die taffe Frau, die auf der Baustelle das Sagen hat und die in ihrer Freizeit gern mit dem Lebensgefährten (David Rott) und dem gemeinsamen Sohn (Jeremy Miliker, „Die beste aller Welten“) in der Steilwand klettert, die Diagnose bekommt: „Bei Multipler Sklerose ist eine genaue Prognose unmöglich. Sie müssen mit körperlichen und mentalen Symptomen rechnen. Welche wann wie auftreten, lässt sich nicht voraussagen. Mit dieser Unsicherheit müssen alle Betroffenen leben.“

Betroffen sind auch ihre Kleinfamilie, in der sie das Familieneinkommen besorgt, ihre besorgten Eltern und die jüngere Schwester (Franziska Weisz), die viel in der Weltgeschichte herumgereist ist. Es ist eine etwas fernsehfilmhafte Konstruktion, wenn nun die Schwester und der musizierende Mann lernen müssen, Verantwortung zu übernehmen, während die Architektin lernen muss, diese abzugeben. Einer Alphafrau wie ihr muss das schwerer fallen als einem Heimchen am Herd – so die Prognose. Es ist ein Auf und Ab der Gefühle, auf Momente des Glücks und der Hoffnung folgen stets Rückschläge. Julia Koschitz kann ihr Potenzial so richtig entfalten.

Regisseurin Vivian Naefe weiß, wovon sie erzählt

Und wenn die Familie ausgelassen gemeinsam mit dem Fahrrad einen Ausflug macht, dann versteht Koschitz es, nicht nur dieses Glück überzeugend zu spielen, sondern auch den Vorbehalt, unter dem dieses Glück steht. „Ist beim Klettern passiert“ – irgendwann werden der Architektin die Kollegen diese Erklärung für ihr plötzliches Hinken nicht mehr abkaufen.

„Mein Körper gehört nicht mehr mir. Ich löse mich auf, Axel“, sagt sie ihrem Mann und müsste es gar nicht sagen, weil die Koschitz das doch so überzeugend spielt. Angeleitet von Regisseurin Vivian Naefe, die weiß, wovon sie erzählt: starb doch ihre Mutter an MS, als sie acht Jahre alt war. Ihr Film sieht vor allem sehr realistisch aus. Und führt so auch den Unterschied zwischen – öffentlich-rechtlichem deutsch-österreichischen (es handelt sich um eine Koproduktion des ZDF mit dem ORF) – Fernsehen und Kino vor Augen.

Wie originell und poe­tisch, wie bildgewaltig und, ja, überwältigend schön man eine tragische Krankengeschichte auch erzählen kann, hat vor zwölf Jahren Julian Schnabels „Schmetterling und Taucherglocke“ vorgeführt, über einen Mann, der nach einem Schlaganfall nur noch durch das Blinzeln der Augenlider kommunizieren konnte. Mit dem Fernsehfilmrealismus ist es hingegen so eine Sache: Streichmusik aus dem Off ist da nicht wirklich förderlich.

„Balanceakt“, Montag, 26. August, ZDF, 20.15 Uhr und in der ZDF-Mediathek.

Aber darüber und über ein paar andere Routinen und über das Krankheitsfilm-typische Motiv der Besinnung auf die wahren Werte kann man unter dem Eindruck der Schauspielkunst der Preisträgerin durchaus hinwegsehen. Lerchenberg eben. Worüber man nicht hinwegsehen kann, ist diese – vermutlich der Erstausstrahlung im ORF am Welt-Multiple-Sklerose-Tag am 29. Mai geschuldete – erbaulich-sentimentale Schlussminute auf dem Niveau eines „Aktion Mensch“-Einspielers.

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