Jesus versus Salvini: Die Sklaven der Agrarindustrie

Aktuell verfilmt unser Autor in Süditalien das Neue Testament. Die Hauptrollen spielen Migrant*innen. Noch nie musste er ein Projekt so wenig erklären.

Eine Lagerhalle im Getto von Metaponto, in der provisorische Hütten stehen: Im Vordergrund spricht ein Mann in ein Mikrophon, im Hintergrund hört ihm ein weiterer Mann zu

Yvan Sagnet, ehemaliger Plantagenarbeiter und Aktivist, spielt in Raus Film „Gottes Sohn“ Foto: Thomas Eirich-­Schneider/Fruitmarket Langfilm

Aktuell verfilme ich in Süditalien das Neue Testament. Jesus, der übers Wasser geht, das letzte Abendmahl, schließlich die Passion Christi: All das findet diesen Sommer noch einmal statt, in den Flüchtlingslagern und vor filmhistorischer Kulisse in Matera. Die Kreuzigung ist auf den 6. Oktober in Matera geplant, die Auferstehung auf den 10. Oktober im Nationaltheater in Rom – in Anwesenheit von Politikerinnen der auseinanderfallenden italienischen Regierungskoalition und hoher Würdenträger des Vatikans.

Die Sache begann durch einen Zufall. Meine Stücke touren oft in Italien, und als Matera zur europäischen Kulturhauptstadt 2019 ernannt wurde, bekam ich eine Mail: Ob ich inszenieren wolle in der Stadt, in der Pasolini und Mel Gibson ihre Jesusfilme drehten? Ich entschied mich, die Passion Christi zu verfilmen und begann mit dem Casting. Pasolinis Jesus, Enrique Irazoqui, spielt in unserem „Neuen Evangelium“ Johannes den Täufer; Maia Morgenstern, die Heilige Maria von Mel Gibson, wird noch einmal die Mutter des christlichen Propheten darstellen.

Die römischen Soldaten werden von Polizisten verkörpert, die sonst Flüchtlingslager schließen. Und Pontius Pilatus gibt ein gemäßigter Materaner Politiker, der wie der historische Pilatus die Politik Roms unwillig – aber im Endeffekt natürlich widerstandslos – exekutiert.

Doch die Hauptrollen dieses „Neuen Evangeliums“ werden von Migrant*innen, Kleinbauern und Aktivist*innen gespielt. Denn der Reisende, der sich dem Stiefelabsatz nähert, landet mitten in dem, was Karl Marx einst die „ursprüngliche Akkumulation“ genannt hat. Ein auf eine halbe Million Menschen geschätztes Heer von afrikanischen Sklavenarbeitern vegetiert in den über die Landschaft verteilten Lagern und Gettos dahin, nur um auf Tomaten- oder Orangen­plantagen für eine Handvoll Euro pro Tag ausgebeutet zu werden.

Umgekehrte Globalisierung

Sklaven sind diese Menschen, weil sie keine Papiere haben, weil sie in Schulden stecken, weil sie aufgrund des Dublin-Abkommens weder vor noch zurück können. Eine Art umgedrehte ­Globalisierung hat Süditalien zum ­Laboratorium des ultraliberalen Kapitalismus gemacht: Während im ausgehenden 20. Jahrhundert die Produktionsbetriebe zur billigen Arbeit gebracht wurden, wird im beginnenden 21. Jahrhundert die Arbeitskraft nach Europa geschleust. Das System ist ausweglos: Bezahlen die Kleinbauern die Erntearbeiter nicht miserabel, können sie nicht zu den Preisen produzieren, die die Discounter Lidl und Penny ihnen pro Kilo zahlen.

Der Schweizer Regiesseur Milo Rau ist Intendant des belgischen Stadstheaters in Gent. Zurzeit inszeniert er in Italien und wird darüber regelmäßig in der taz berichten.

Fast die komplette italienische Agrarindustrie wird so von mafiösen Zwischenhändlern kontrolliert, an reguläre Verträge ist nicht zu denken. Dass Salvini dieser Tage die italienische Regierung implodieren lässt, ist gewissermaßen konsequent. Der Staat hat sich aus dem Süden Italiens ohnehin seit Jahrzehnten zurückgezogen, Gesetze existieren nur auf dem Papier. Wie zur Zeit des römischen Kaisertums sehnen sich die Menschen nach charismatischer Herrschaft. Oder eben nach Gerechtigkeit.

Was wäre einleuchtender, als hier den sozialrevolutionären Mythos der Jesusbewegung ins 21. Jahrhundert zu holen? Gottes Sohn ist in unserem „Neuen Evangelium“der Kameruner Yvan Sagnet, ein ehemaliger Plantagenarbeiter und Aktivist. Als seine Apostel*innen treten Bewohner*innen der Flüchtlingslager in Erscheinung, von den großen Konzernen in den Ruin getriebene Bauernaktivisten, Sexarbeiterinnen. Nächste Woche startet parallel zum Jesus-Dreh mit einem Marsch aus den Lagern die Kampagne „Rivolta della Dignità“ („Revolte der Würde“), die faire Arbeits- und Lebensbedingungen für Flüchtlinge, globale Reisefreiheit und ein Bürgerrecht für alle fordert.

Jesus versus Salvini, Gerechtigkeit versus Ausbeutung – noch nie habe ich vor Ort ein Projekt so wenig erklären müssen. Und vielleicht nicht ganz unpassenderweise wird kurz vor unserem Jesus-Film in Matera ein Film abgedreht, der sich ganz klassisch mit der Rettung der Welt vor dem Bösen befasst: die neue James-Bond-Folge.

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