Zwangstrennung von den Eltern: Die Kinderschutz-Frage

Die Zahl der Kinder in Heimen und Pflegefamilien ist so hoch wie nie. Das könnte auch an übereifrigen Jugendämtern liegen.

Kinder aus ärmeren Familien werden schneller ihren Eltern weggenommen Foto: Christian Hager/dpa

HAMBURG taz | Wie wichtig Jugendhilfe ist, wird neuerdings auch mit Werbung gezeigt. Zwei blonde Mädchen in rosa und weißem Shirt gucken in die Kamera, die ältere hält schützend die Arme um die jüngere Schwester. „Ihr Elternhaus war von Gewalt und Drogenmissbrauch gekennzeichnet“, heißt es in der Anzeige eines großen Heimträgers. Nun hätten sie beide ein neues Zuhause gefunden und Chancen, „die ihnen die leiblichen Eltern wohl nicht bieten können“.

Dass Kinder nicht bei ihren Eltern leben, kommt Ende der 2010er-Jahre häufiger vor als früher. Eine Anfrage der Linken im Bundestag von April ergab, dass 2017 mehr als 81.000 Kinder in Pflegefamilien lebten, so viele wie noch nie, und ein Drittel mehr als 2008. Da ergäben sich Fragen, sagte der Linken-Abgeordnete Norbert Müller der Tagesschau. Vor allem, da ein Großteil dieser Kinder aus finanziell schwachen Verhältnissen komme und mehr als die Hälfte aus Alleinerziehenden-Haushalten. Und er fragte: „Sollte es gesellschaftlich akzeptiert sein, dass Kinder, weil sie arm sind, ein höheres Risiko haben, fremd untergebracht zu werden und nicht bei ihren Eltern leben zu können?“

Übrigens ist auch die Zahl der Heimunterbringungen gestiegen. Auch etwa um ein Drittel seit 2008. Zusammen waren es 2017 rund 180.000. Die Bundesregierung findet die Zahlen erfreulich. Wenn die Jugendämter heute „mit mehr Fällen umgehen, weil wir eine höhere Meldung haben von problematischen Fällen, dann ist das für uns erst mal eine positive Entwicklung“, sagte ein Sprecher des Bundesfamilienministeriums.

Die Frage ist umstritten. Nachdem beim CDU-Bundestagsabgeordneten Marcus Weinberg Hunderte von Beschwerden von Eltern eingingen, die klagten, sie würden zu Unrecht von ihren Kindern getrennt, hat der Bundestag in diesem Frühjahr dazu einen Forschungsauftrag an ein Institut vergeben. Betroffene, die ihren Jugendämtern mitteilten, dass sie sich dort melden würden, berichten von Druck, der auf sie ausgeübt worden sei.

Zahl der Sorgerechtsentzüge ist gestiegen

Die Zahlen der Kinder in Heimen und Pflegefamilien müssen vorsichtig interpretiert werden – zumindest ab 2015 haben sie sich auch durch die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge erhöht. Doch dass der Staat häufiger in Familien ergreift, steht wohl fest. Ein gerade erschienenes Buch mit dem Titel „Staatliche Kindeswohlgefährdung?“ beleuchtet diese Entwicklung kritisch. Die Sozialpädagogik-Professoren Gregor Hensen und Reinhold Schone rechnen darin vor, dass die Zahl der Sorgerechtsentzüge von 2005 an auf mehr als das Doppelte gestiegen ist: von durchschnittlich 8.096 in den Jahren 2000 bis 2005 auf durchschnittlich 16.522 in den Jahren 2015 bis 2017. Hinzu kommt eine hohe Zahl von 8.000 bis 9.000 Fällen pro Jahr, in denen Eltern vom Gericht zur Inanspruchnahme einer Hilfe zur Erziehung verpflichtet wurden.

Damit waren die Eingriffe in die elterliche Sorge im Jahr 2017 auf einem „Allzeithoch“ seit Bestehen der Jugendhilfestatistik. Und das sei mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht damit zu erklären, dass Kinder in Familien heute gefährdeter sind als von 20 Jahren, so die Autoren. Vielmehr schauten die Jugendamtsmitarbeiter anders hin. Zudem erleichterte ein Gesetz von 2008 die Eingriffe der Gerichte bei Kindeswohlgefährdung, weil Eltern seitdem kein Versagen mehr nachgewiesen werden muss.

Hensen und Schone führen aus, dass das Wort „Kindeswohlgefährdung“ ein unbestimmter Rechtsbegriff mit „existenziellen Folgen für Eltern und Kinder“ sei. Eine positive Bestimmung sei nicht möglich, weil das, was gesellschaftlich normiert als „gut“ für Kinder gilt, immer auch „von kulturell, historisch-zeitlich oder ethnisch geprägten Menschenbildern abhängig ist“. So würden auch die zur Sicherung des Kindeswohls beauftragten Sozialarbeiter, Richter, Psychologen und Mediziner ihre eigenen weltanschaulichen, politischen, alltagstheoretischen und schichtspezifischen Vorstellungen zum Maßstab ihres Handelns machen.

„Sie hat etwas Besseres verdient“, soll eine Amtsvormündin gesagt haben, als sie eine Elfjährige von ihrer Mutter trennte. Ein Kind ohne Hauptschulabschluss, das sei „Kindeswohlgefährdung“, eine andere. Und in der Handreichung „Murat spielt Prinzessin“ für Kitas zur Erziehung zur geschlechtlichen Vielfalt heißt es, wenn Eltern mit Ablehnung oder Verleugnung auf geschlechtsvariables Verhalten eines Kindes reagierten und dazu keine Gesprächsbereitschaft zeigten, sollte die Situation „auch unter dem Blickwinkel einer möglichen Kindeswohlgefährdung betrachtet werden“.

Wenn mit dem Begriff des „Kindeswohls“ gemeint ist, dass Kinder sich positiv entwickeln sollen, dann sei dafür das Wichtigste die Bindung, schreibt der Hamburger Jugendhilfeexperte Wolfgang Hammer in einem Beitrag zum Buch. Bestehende Bindungen zu erhalten, bei Bindungsstörungen zu helfen oder neue Bindungen zu ermöglichen, sei oberste Leitlinie, um Kinder zu fördern und zu schützen. Hammer: „Jede Inobhutnahme, die nicht auf dieser Grundlage erfolgt, stellt eine Kindeswohlgefährdung dar.“

Nachgewiesene körperliche und sexuelle Misshandlungen seien selten, schreibt die Gießener Psychologin Andrea Christidis in „Staatliche Kindeswohlgefährdung?“. Die meisten der rund 45.800 Kinder, bei denen 2016 eine Kindeswohlgefährdung angenommen wurde, sollen Anzeichen für Vernachlässigung oder psychische Misshandlungen gehabt haben. „Das sind Hinweise, die sich kaum prüfen lassen“, so Christidis.

Die Psychologin bemängelt, dass die Gerichte immer öfter ohne Anhörung oder sonstige Ermittlungsarbeit entschieden, im blinden Vertrauen auf die Darstellung der Jugendämter, die keineswegs bestritten, Kinder auf bloße Verdächtigung hin aus der Familie zu nehmen. Sie sagten aber, „die Richter hätten die Inobhutnahme beschlossen, und nicht sie“.

„Motor des Kinderwegnahmesystems“

Der Hamburger Politologe Birger Antholz hat sich mit den Statistiken befasst und stellt fest, dass eigentlich viele Indikatoren für einen Rückgang der Inobhutnahmen sprechen müssten. So gab es weniger Geburten, einen Rückgang der Kinderkriminalität, einen Rückgang der Raufunfälle auf Schulhöfen, weniger Selbstmorde, weniger Schulabbrecher und weniger Arbeitslose. Im gleichen Maße wie die Inobhutnahmen sei nur die Zahl der Jugendamtsmitarbeiter gestiegen. „Das ist der Motor des Kinderwegnahmesystems“, schreibt Antholz. Ein Problem sei auch, dass im Jugendamt ältere Akademikerinnen über jüngere Frauen mit geringerer Bildung entscheiden und es keine Machtbalance gebe.

Das Buch habe das Ziel gehabt, die These einer staatlichen Kindeswohlgefährdung breit und kontrovers zu diskutieren, schreiben die Herausgeber Wilhelm Körner und Georg Hörmann. Doch die Arbeit habe sich als schwierig erwiesen. Es gebe „Abhängigkeiten, Machtstrukturen und Alltagsroutinen im behördlich-industriellen Jugendhilfekomplex“, Autoren, die mit der Jugendhilfe verbandelt waren, hätten das Projekt boykottiert. Das Thema gilt als Karrierekiller.

Jugendämter unter Druck

Auf der anderen Seite sehen sich die Jugendämter Vorwürfen ausgesetzt, sie würden zu wenig eingreifen. „Deutschland misshandelt seine Kinder“ ist der Titel eines 2014 erschienenen Buchs der Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat, in dem sie „das Versagen des deutschen Kinder- und Jugendschutzsystems“ anprangern. Wenn Kinder sterben, die den Ämtern bekannt waren, nimmt das die Öffentlichkeit nicht mehr hin. Es gibt seit dem Todesfall von Kevin 2006 in Bremen stets einen medialen Aufschrei und die Suche nach den Schuldigen.

Doch normalerweise hätten Jugendämter es nicht mit skrupellosen Gewalttätern zu tun, sondern mit Eltern, denen das Wohl ihrer Kinder sehr am Herzen liegt, halten Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz und Hans-Ulrich Krause in ihrer dieses Jahr erschienenen Streitschrift „Deutschland schützt seine Kinder“ dagegen. Unter Einfluss der öffentlichen Meinung verschiebe sich die Kinderschutzarbeit in Richtung Kontrolle und Eingriff. „Es geht den Fachkräften nicht mehr allein darum, Kinder zu schützen. Den Fachkräften ist bewusst geworden, dass auch sie selbst sich in ihrer Arbeit schützen müssen“, schreiben die Autoren. Denn niemand wolle für den Tod eines Kindes verantwortlich gemacht werden.

Nicht automatisch die bessere Familie

Rechtsmediziner und Strafgerichte plädierten für eine zügige Unterbringung in Pflegefamilien als per se bessere Lebensorte für die Kinder. Doch auch, wenn viele Pflegefamilien Großartiges leisteten, seien sie nicht automatisch die besseren Eltern, so die Autoren. Denn ebenso wie in biologischen Familien gebe es Gewalt und Misshandlung auch in Heimen und Pflegefamilien.

Im Bericht der Tagesschau hieß es, das Familienministerium solle mit allen Mitteln dafür sorgen, dass Familien nicht erst soziale Brennpunkte werden, sondern „Keimzelle dieser Gesellschaft bleiben“. Aber wie soll das gehen?

Der Siegener Forscher Klaus Wolf sagte in der Westfalenpost, die Wegnahme von Kindern könne öfter verhindert werden, wenn es mehr ambulante Hilfe für Familien in Notsituationen gebe. In Hamburg gibt es so ein Projekt beim Abenteuerspielplatz Wegenkamp im Stadtteil Stellingen. Eltern mit Kindern, die Probleme haben, oder auch Jugendliche und Kinder ab sechs Jahren ohne Eltern können übergangsweise in zwei Gästewohnungen unterkommen und werden pädagogisch begleitet. Wenn sie wollen, auch ohne Wissen des Jugendamtes, sofern die Sorgeberechtigten ihr Einverständnis geben.

Gästewohnung ohne Fallzahl

„Hilfe im Stadtteil“ lautet das Motto, erzählt der Sozialarbeiter Manuel Essberger, der seit 20 Jahren bei dem Projekt arbeitet. Wenn zum Beispiel eine Alleinerziehende ins Krankenhaus muss, sorgen er und seine Kolleginnen dafür, dass das Kind bei einer Gastfamilie einer Mitschülerin unterkommt. Das Projekt bekommt eine feste Zuwendung und wird nicht nach Fallzahl bezahlt. Essberger sagt, wenn man per Fall bezahlt werde, steuere das die Arbeit. Etwa, dass man kurze, heftige Fälle ablehne und lieber leichte länger behalte. Das sei nicht gut.

Die Annonce des Heimträgers mit den zwei blonden Mädchen enthält übrigens noch einen kaum lesbaren Hinweis: „Name und Abbildung zum Schutz der realen Personen geändert“. Die Mädchen im weißen und rosa Shirt scheinen Models zu sein.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.