Verhältnis von Gläubigen zur Kirche: Katholisch sein macht mürbe

Seit dem Missbrauchsskandal ist klar: In der Kirche gibt es kein Habitat der Gemütlichkeit. Aber ein Austritt würde die Lage eventuell verschlimmern.

Zeichnung einer Kirche, zu der Fußspuren hin und davon weg führen

Rein oder aus? Die Zeit des Durchwurschtelns ist vorbei Foto: Katja Gendikova

Manchmal frage ich mich, warum ich diesem Laden noch angehöre. Warum zahle ich Kirchensteuer, als wäre nichts passiert, als hätte es keinen Missbrauchsskandal gegeben und keine Glaubwürdigkeitskrise? Bin ich masochistisch veranlagt? Strukturkonservativ? Bin ich fauler oder dümmer als die Hunderttausende, die jedes Jahr der Kirche den Rücken kehren?

Ernsthaft, die Frage quält mich. So wie sie viele quält, die wie ich noch dabei sind: Wie kann ich heute noch katholisch sein, wie einer Kirche angehören, die bei unverändert hohem moralischem Anspruch an andere ihre eigenen moralischen Grundsätze in der Vergangenheit allzu gerne verriet? Einer Kirche, in der sexueller Missbrauch an Kindern tausendfach vorkam, stillschweigend geduldet, vertuscht und von einer repressiven Sexualmoral auch noch begünstigt wurde. Einer Kirche, die, obwohl die Welt nun schon seit Jahren um ihr schmutziges kleines Missbrauchsgeheimnis weiß, sich immer noch nicht darauf einigen kann, welche Lehren sie aus dem Ganzen ziehen soll. Die seitdem geistig wie paralysiert wirkt und Strukturdebatten führt, denen kein vernünftiger Mensch mehr folgen kann. Einer Kirche, die jedes Jahr mit der Zahl der Kirchenaustritte ihren Bedeutungsverlust routiniert-bedauernd zur Kenntnis nimmt – und sich dann weiter durchwurstelt.

Oft denke ich, ich muss hirnverbrannt sein, das nicht nur zu alimentieren, sondern mich dieser Kirche auch auf eine mir selbst unverständliche Art verbunden zu fühlen. Immerhin: Ich bin nicht allein. Es gibt noch andere Katholiken, und irgendwie ähneln wir uns alle. Anders als viele Protestanten, Konfessionslose und sonstige Nichtkatholiken meinen, sind Katholiken keine Schafe. Die meisten von uns sind kritische Geister.

Insgeheim stellen wir uns alle die große katholische Sinnfrage. Sie gehört zum Katholischsein dazu. Nur stellt sie sich in letzter Zeit öfter, lauter, drängender. Denn mit jedem Skandal, jeder noch so kleinen Reformidee, die von den immer gleichen konservativen Bremsern in der Bischofskonferenz oder in Rom für unvereinbar mit der Lehre erklärt wird, bevor sie diskutiert werden kann, wird der Riss zwischen der Kirche, wie sie ist, und der, die wir uns wünschen, immer größer.

Was würde aus der Kirche, ohne die kritischen Geister?

Katholisch zu sein zermürbt. Ständig ist man im Verteidigungsmodus. Einerseits muss man einer ungläubiger werdenden Gesellschaft erklären, warum man überhaupt an Gott glaubt. Und andererseits meint man, ständig alles, was einen noch in dieser Kirche hält, gegen eine Institutionen verteidigen zu müssen, die sich über Jahrhundert antrainiert hat, von oben herab mit den Menschen zu reden, und sich umso verzweifelter an die Macht klammert, je mehr ihr diese aus den ­Händen gleitet.

Jedes Jahr dasselbe: Wir Katholiken werden weniger. Als einer der Übriggebliebenen denke ich an die, die Abschied nehmen, und empfinde Neid. Wie können sie einfach so gehen, frage ich mich. Wie können sie so tun, als hätten sie mit dieser Kirche nie etwas zu tun gehabt, als seien sie keine getauften Christen? Wie sie würde ich mich auch gerne in ein Davor und ein Danach spalten können. Doch der Katholizismus ist zu sehr Teil meiner selbst.

Davon abgesehen: Was würde aus der Kirche, gingen alle kritischen Geister? Wer würde dann den Bischöfen auf die Finger klopfen, sie freundlich, aber bestimmt daran erinnern, dass sie Sterbliche sind und ihnen ihre schwindende Macht nicht zu Kopf steigen soll? Die Atheisten etwa?

Wo waren die Atheisten denn, als es darum ging, den sexuellen Missbrauch öffentlich zu machen? Von dumpfen Ressentiments abgesehen kam aus dieser weltanschaulichen Ecke kaum ein aufklärerischer Beitrag von Belang. Engagierte katholische Laien trieben die Aufarbeitung voran und verhindern noch heute, dass die Bischöfe das Thema folgenlos zu den Akten legen.

Der Kirchenaustritt taugt nicht zur Absolution

Zu katholischen Helden macht das uns Laien nicht. Auch wir haben Schuld auf uns geladen. Wir erfreuten uns der Gemeinschaft, der schönen Lieder, der Festlichkeit an Weihnachten und konnten oder wollten uns lange nicht vorstellen, dass sich Priester an Kindern vergehen. Wir waren blind, weil wir nicht den Mut hatten, zu sehen. Wir lästerten über den Bischof, schimpften auf den Papst, wenn er wieder mal irgendeinen konservativen Stuss von sich gab, und taten dabei stets so, als ginge die Institution uns höchstens nebenbei etwas an. Als wäre der Katholizismus die Matrix, in der wir es uns dauerhaft gemütlich machen können.

Seit der Missbrauchskrise ist klar: In dieser Kirche gibt es keine Habitate der Gemütlichkeit, es gibt kein richtiges katholisches Leben in einer sündig gewordenen Institution. Die Institution, das waren immer auch wir, die wir in unserer Blindheit duldeten und bejahten. Wer diese Wahrheit einmal akzeptiert hat, kann sich nicht mehr per Verwaltungsakt aus der Verantwortung stehlen. Der weiß: Der Kirchenaustritt taugt nicht zur Absolution. Er macht es nur leichter, sich selbst zu belügen.

Guten Gewissens kann man allerdings heute auch nicht mehr katholisch sein. Gleichwohl ist es möglich, in der Kirche vielleicht irgendwann eine neue Heimat zu finden, wenn man aus seinem schlechten Gewissen die richtigen Konsequenzen zieht. Doch das ist ein langer, steiniger Pfad.

In den vergangenen Jahren gab es viele Momente, in denen ich glaubte, mich so weit von der Kirche entfernt zu haben, dass ich den Weg zurück nicht finde. Momente, in denen ich selbst kurz davor war, auszutreten. Dann jedoch erkannte ich: Nicht ich hatte mich von der Kirche entfernt, sondern meine Kirche von dem, was die Wahrheit der christlichen Botschaft für mich persönlich ausmacht. Und ich ließ es zu, dass es so weit kam. Das ist das Schmerzliche daran.

Der monolithische Block gerät in Schwingungen

Gut katholisch ist es, zugegeben, nicht, so zu denken. Aber was heißt schon „gut katholisch“? In der Formulierung schwingt der Anspruch der geweihten Männer auf die Wahrheit mit. Dieser Anspruch gehört so sehr zu Selbstverständnis der Hierarchie, dass Wahrheit und Macht untrennbar im Katholizismus verwoben zu sein scheinen. Dabei jedoch wird gerne übersehen: Der Machtanspruch der Hierarchen lebt vom stillen Einverständnis der katholischen Masse, die offi­zielle Wahrheit zu akzeptieren.

Genau das können und wollen viele Laien jedoch nicht mehr. Sie gehen auf die Barrikaden, buhen Priester aus, die Vergebung für Missbrauchs­täter und Nachsicht mit der Institution predigen, bestreiken Kirchen, demonstrieren für die Gleichberechtigung der Frau am Altar, fordern die Abschaffung des Zölibats und eine Lockerung der katholischen Sexualmoral. Dass die Laien dabei auch von ihrem schlechten Gewissen zum Widerspruch gedrängt werden, entwertet den Protest nicht. Im Gegenteil: Erst das schlechte Gewissen gibt ihm Kraft und Dauer.

Früher war das Mittelmeer Zentrum der Identität Europas, heute wenden sich die Menschen von ihm ab. Ein Essay über ein Meer, das Hilfe braucht – in der taz am wochenende vom 17./18. August. Außerdem: Die Polizei möchte Bienen zur Drogenfahndung einsetzen. Science Fiction oder bald Realität? Und: In Belgien bekommen Obdachlose schnell eine Wohnung, in Deutschland nicht. Eine Reportage. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und bei Facebook und Twitter.

Wer sensibel für seismologische Veränderungen ist, der spürt, wie der monolithische Block (als solcher wirkt die katholische Kirche auf Outsider) in Schwingung gerät. Wie sich unter der Oberfläche etwas bewegt, das die Dinge langfristig mehr verändern könnte als die Reförmchen, die hier und da angedacht, dann verwässert , dann begraben werden.

Nehmen wir die Bischöfe. Unter ihnen findet sich heute kaum noch einer, der meint, den Menschen vorschreiben zu können, wie sie zu leben und zu lieben haben. Über katholische Sexualmoral reden Bischöfe öffentlich am liebsten gar nicht mehr. Oder wenn doch, dann mit Entschuldigungsgeste und verkrampftem Gesicht, so als würden sie an der Lehre, die ihnen sauer geworden ist, selbst mittlerweile am meisten leiden.

Die Bischöfe an die geteilte Ohnmacht erinnern

In dieser Ohnmacht der Macht liegt die Chance auf Veränderung. Denn von der Ohnmacht zur Handlung ist es nur ein Schritt. Er setzt voraus, dass die Ohnmacht sich ihrer selbst bewusst wird. Viele Bischöfe spüren heute bereits, dass die Zeit des Durchwurstelns eigentlich vorbei ist. Dass irgendetwas geschehen muss, wenn der Katholizismus in der westlichen Welt nicht vollends in der säkularen Versenkung verschwinden will.

Eine zündende Idee, wie das verhindert werden kann, hat die Hierarchie bislang nicht. Der neuste Trend: Die ungläubige Gesellschaft soll missioniert werden. Neuevangelisation heißt das Zauberwort der Stunde. Das Prinzip dahinter ist so bequem wie altbekannt: Man redet über die anderen. Sie sollen sich ändern, gläubiger und katholischer werden.

Dass man die Menschen so wieder in den Schoß der Kirche lockt, scheinen so richtig aber nicht mal die zu glauben, die mit den immer gleichen Phrasen bei anderen den Aufbruch im Glauben beschwören. Auch sie sind ohnmächtig, tun jedoch so, als wären sie mächtig.

In diesem Moment kommen wir ins Spiel, die kritischen Katholiken. Wir müssen die Bischöfe an unsere geteilte Ohnmacht erinnern, ihnen immer wieder unsere Transparente unter die Nase halten, sie aus ihrer Gemütlichkeitsecke herauszerren, sie daran hindern, zuerst sich und dann uns zu belügen. Denn erst wenn man der Wahrheit über sich selbst ins Auge schaut, wenn man sie annimmt und nicht nur als störendes Übel zu Kenntnis nimmt, wenn die Reue aufhört, Routine zu sein, sondern tief empfunden wird, ist der eigene Aufbruch möglich, den es braucht, um andere zu überzeugen. So ehrlich muss Kirche zu sich sein. Sonst hat sie in dieser Welt nichts verloren.

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