Politikprofessor über Großbritannien: „Johnson ist ein Bullshitter“

Das Verlangen nach Repräsentation und Zynismus führten zur Wahl von Boris Johnson. So sieht das Jeremy Gilbert, Professor für politische Theorie.

Boris Johnson beißt in ein Eis mit britischer Flagge

Dem Schwindler Johnson wird in Umfragen ein liebenswerter Charakter zugeschrieben. Na dann Foto: reuters

taz: Herr Gilbert, was verrät die Wahl von Boris Johnson zum Premierminister über den Zustand des britischen Konservatismus?

Jeremy Gilbert: Es verrät, dass die konservative Partei vollkommen aufgegeben hat, die Mitte für sich zu gewinnen. Johnsons Wahlsieg ist das Ende des „Dritter-Weg-Konservatismus“ des Ex-Parteichefs David Cameron und von Theresa Mays „Blue-Collar Conservatism“ in der Brexit-Frage. Stattdessen geht es nur noch um die eigene Stammwählerschaft. Aber man muss das in einem Kontext sehen. Als Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der Labour-Partei gewählt wurde, hat man das Gleiche über ihn gesagt. Und er war an der Wahlurne wesentlich erfolgreicher als zunächst erwartet. Ich vermute, die Konservativen erhoffen sich Ähnliches von Johnson.

Sein größter Konkurrent ist dabei die Brexit-Party von Nigel Farage.

Ich glaube nicht, dass Johnson viele Wähler von der Brexit Party für sich gewinnen kann. Es gibt zweifelsohne einen undefinierten Anteil der Arbeiterklasse, der sich als weder rechts noch links versteht, aber für diese Menschen ist Johnson nicht interessant, weil er immer eine Figur der Rechten verkörpert hat. Aber Johnson ist kein Trump, seine Basis umfasst vielleicht 20 bis 25 Prozent aller britischen WählerInnen.

Warum haben die erfolgsverwöhnten Konservativen ihn dann gewählt?

Hinter seiner Wahl steckt des Verlangen, dass Menschen unbedingt ihre eigenen Vorurteile und Gesinnungen in der politischen Öffentlichkeit authentisch repräsentiert sehen wollen. Dieses Verlangen nach Repräsentation ist gerade sehr mächtig. Es zieht sich durch das gesamte politische Spektrum bis in die Mitte selbst, wie der Wiederaufstieg der Liberaldemokraten im Verlauf der Brexit-Debatte zeigt. Ihre Anhänger zeigen einen gewissen Snobismus und insistieren darauf, dass sie aufgrund ihrer Qualifikation und Bildung ein Recht darauf haben, das Land zu regieren.

ist Professor für Kultur und Politische Theorie an der University of East London. Er ist Mitglied der Labour-Partei und des House-Party-Kollektivs „Lucky Cloud“ und publiziert regelmäßig im Guardian und im New Statesman. Sein Buch „Twenty-First Century Socialism“ erscheint im Dezember bei Polity Press (London).

Deshalb würden die LibDems (Liberal Democrats) und ihre Wähler auch so gerne vergessen, dass es das Brexit-Referendum gegeben hat. Die Konservativen glauben wiederum, dass sie mit Boris Johnson von diesem Trend profitieren können und zwar bei den Wählern, die gerade vom Rechtspopulisten Farage bedient werden. Und wenn ihm das nicht gelingt, ist die konservative Partei am Ende.

In Umfragen wird Johnson als „liebenswerter Charakter“ beschrieben, auch wenn jeder weiß, dass er ein notorischer Schwindler ist. Welche Affekte und Gefühle stecken hinter dieser Einschätzung?

Hauptsächlich Zynismus. Aber das ist auch kein neues Phänomen, bei Trump und Berlusconi ist es genauso. An diesen Politikern wird bewundert, dass sie ihre Erfolge auf komplett amoralische Art und Weise erzielt haben. Johnson ist ein Bullshitter, ein Spruchbeutel, aber sein Zynismus wirkt dabei weniger heuchlerisch als die Ernsthaftigkeit seriöser Politiker. Auch bei denen ist ja klar, dass sie ihr politisches Programm zumeist nicht umsetzen können. Dabei bedient sich Johnson einer antipolitischen Haltung in Teilen der Bevölkerung. Die Mitglieder der Tories nehmen ihm dagegen ab, wie einst Winston Churchill, Nationalstolz und Optimismus zu beschwören, und dass er Großbritannien in einen glorreichen Kampf mit einem europäischen Suprastaat führen wird. Diese Mythologie hat Boris Johnson seit den achtziger Jahren kultiviert.

Im Moment wird oft gefordert, dass die Linke gegen Figuren wie Trump und Johnson eine Art Über-Ich der Demokratie sein sollte, indem sie besonders auf die Einhaltung von demokratischen Grundregeln besteht. Aber ist das sinnvoll, wenn es ein Verlangen nach Grenzüberschreitung und Exzentrik gibt, das jemand wie Johnson bedient?

Ich bin ein großer Verteidiger der Weird Left – einer unorthodoxen Linken, die sich auf die Gegenkultur der sechziger Jahre bezieht. Aber im Fall von Boris Johnson wäre ich damit vorsichtig. Seine Äußerungen sind nicht transgressiv, sie überschreiten keine sozialen Normen.

Seine Exzentrik steht in einer Tradition der Ehrerbietung, die zentral für den populären Konservatismus in Großbritannien ist: Die Tradition des „harmlosen Exzentrikers“ reicht bis ins späte 19. Jahrhundert zurück und existierte auch in Teilen der Arbeiterklasse. Die Position der herrschenden Oberschichten galt darin als legitim und ihre Exzentrik war ein Ausdruck davon. Abseits der herrschenden Elite wurde diese Exzentrik jedoch nicht toleriert. In dieser Logik darf Boris Johnson seine Individualität ausleben, weil sein Erfolg, sein Wohlstand und seine Privilegien ihn dazu berechtigen.

Hat die Labour Party im Moment überhaupt die richtige Taktik, um Johnson zu bekämpfen?

Aktuell konzentriert sich Labour darauf zu erklären, dass Johnson auch nur ein Tory wie alle anderen ist. Aber ich denke, die Partei wird nicht darum herumkommen, fundamentale Fragen über die Krise zu stellen, in der sich das politische System in Großbritannien seit 1976 befindet …

… 1976 ist Labour-Premierminister Harold Wilson zurückgetreten, der IWF musste die britische Währung stützen. Damals haben die Sex Pistols ihren berühmten Song „Anarchy in the UK“ veröffentlicht …

Boris Johnson und der Brexit sind eine Folge dieser Krise. Für die politische Mitte beginnt unsere momentane politische Krise erst 2015 mit dem Brexit-Referendum, für die Labour-Führung mit dem Bankencrash 2008. Aber sie reicht viel tiefer. Das Problem ist, dass Labour nicht gewillt ist auszusprechen, dass wir eine fundamentale Reform unserer politischen und sozialen Institutionen brauchen, die vom Kahlschlag der Thatcher-Jahre zerstört worden sind. Dabei haben wir in unserem Programm stehen, dass wir eine verfassunggebende Versammlung einsetzen wollen, aber keine Führungsfigur hat sich dazu jemals öffentlich geäußert. Es gibt einige Minimalforderungen für eine Reform: die Abschaffung des Oberhauses und die Einführung eines Verhältniswahlsystems für das Unterhaus. Aber letztlich glaube ich, dass man unsere komplexen Gesellschaften nicht mehr mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts regieren kann. Dafür sind weitreichende demokratische Reformen des öffentlichen Dienstes und des Bildungswesens notwendig.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.