SPD-Basis kritisiert Migrationspaket: „Die verraten unsere Leute“

Die SPD stimmte einem Gesetzes­paket zu, das auch Abschiebe­regeln ver­schärft. Viele GenossInnen wollen den Kurs nicht mittragen.

SPD-Politiker Lars Castellucci sitzt mit unter dem Kinn gefalteten Händen an einem Tisch

Hat das Migrationspaket verteidigt, sich aber für die Wortwahl entschuldigt: Lars Castellucci Foto: imago/Arnulf Hettrich

BERLIN taz | Die Bundestagsdebatte über das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ war noch gar nicht losgegangen, als Giorgio Nasseh am frühen Morgen des 7. Juni einen bitteren Tweet ins Netz schickte. „Liebe @spdbt, für viele Mitglieder mit Migrationshintergrund ist das ein Schlag ins Gesicht. Ich kann mich mit eurem Handeln, eurer Argumentation, euren Statements nicht mehr identifizieren. Wahlkampf könnt ihr selbst machen. Noch ein bisschen und ich bin weg.“

Ende Juni hätte Nasseh den Tweet ganz ähnlich noch einmal absetzen können. Da hatte die Bundestagsfraktion der SPD auch dem letzten von insgesamt sieben Gesetzen zugestimmt, mit dem die Große Koalition kurz vor der Sommerpause die Weichen in der Migrationspolitik neu stellt – eine Reform, welche die deutsche Staatsbürgerschaft von einer „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ abhängig machen will. Kritiker sprechen von einem „Leitkultur“-Paragrafen.

Und diese Kritiker gibt es auch in der SPD. Allen voran: unter dortigen Migranten.

Giorgio Nasseh ist einer von ihnen. Der 30-Jährige arbeitet für eine Spedition und macht in Südhessen Politik. Er war lange Asta-Vorsitzender an der Goethe-Universität, später Vize-Chef der Jusos in Hessen. In die SPD trat Nasseh 2009 ein – politisiert von den Unruhen in der Pariser Banlieue.

„Da ist ein Damm gebrochen“

„Ich habe gedacht, so weit darf es in Deutschland nicht kommen. Jugendliche mit Migrationshintergrund müssen die gleichen Chancen bekommen wie alle anderen.“ Aber auch seinen Großvater, der als marokkanischer Gastarbeiter nach Deutschland gekommen war, hatte er im Ohr. „Der hat immer gesagt, die SPD ist gut für uns. Das war bei ihm einfach ein allgemeines Gefühl.“

Nasseh teilt dieses Gefühl schon länger nicht mehr uneingeschränkt. Die Zustimmung der SPD-Fraktion zum „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Damit kann AsylbewerberInnen künftig das Existenzminimum gestrichen werden, können sie in den gleichen Haftanstalten wie verurteilte Straftäter untergebracht werden. „Da ist ein Damm gebrochen“, sagt Nasseh. „Es fühlen sich gerade viele ermächtigt, die aus der SPD eine Partei machen wollen, die innenpolitisch rechts steht.“

Igor Matviyets, SPD Halle

„Das ist doch ein Pulverfass“

Nasseh spielt an auf eine Debatte, die nach den Europawahlen hochkochte. Nach dem Wahlsieg der dänischen Sozialdemokraten hatte Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel seiner Partei öffentlich empfohlen, sich deren „gelinde gesagt ,robuste' Ausländer- und Asylpolitik“ zum Vorbild zu nehmen – und dies mit einem sozialpolitischen Linkskurs zu kombinieren.

Er lobte, anders als den Dänen sei der SPD das Gespür für ihre „traditionelle Wählerschaft“ abhandengekommen. Auch SPD-Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann plädierte nun für eine Migrationspolitik mit „knallharten Regeln“. SPD-Familienministerin Franziska Giffey sagte, soziale Integration sei zwar wichtig. „Aber zur ausgestreckten Hand gehört auch das Stopp-Signal.“

Endlich Einwanderung

Nasseh ist überzeugt, dass die Parteispitze in Berlin ein falsches Bild von ihren potenziellen WählerInnen habe. Viele von ihnen hätten selbst eine Einwanderungsgeschichte – genauso wie der eigene Parteinachwuchs, sagt er. „Wenn alles gut liefe, wären das die Menschen, die die SPD in die Zukunft führen.“ Doch statt Talente an der Basis zu fördern, vergraule die Partei sie. „Ich höre jetzt von vielen, die sagen: ‚Die verraten unsere Leute, die verraten das, wofür wir stehen.‘“

Mit „die“ ist auch Lars Castellucci gemeint. Der integrationspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion hat im Innenausschuss des Bundestags das Gesetzespaket mit ausgehandelt. Während das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ die Handschrift der Union trägt, sind viele in der SPD stolz darauf, das erste Mal ein „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ durchgesetzt zu haben. Es soll die Arbeitsmigration für Nicht-Akademikerinnen erleichtern, enthält aber hohe Hürden.

Ein junger Mann steht vor einer Kreuzung

Giorgio Nasseh arbeitet für eine Spedition und macht in Südhessen Politik Foto: privat

In einem Tweet hatte Castellucci sie erklären wollen und schrieb: „Wir wollen keine Einwanderung in Sozialsysteme. Also sollen nur diejenigen einwandern, die eine eigenständige Altersversorgung aufbauen können.“ Er erntete Empörung: Das sei klassischer AfD-Sprech, die SPD biedere sich dem rechten Rand an. Castellucci, sonst eher ein Mensch der leisen Töne, hat sich für seine Wortwahl entschuldigt. Es sei eine Formulierung gewesen, „die sonst unsere politischen Gegner gebrauchen“.

Castellucci hatte sich zunächst klar dagegen positioniert, Geflüchtete in normalen Haftanstalten unterzubringen – er kann Teile der Kritik am Kompromiss mit der Union nachvollziehen. Aber er sagt auch: „Ich bin überzeugt, dass wir die Akzeptanz für unser Asylrecht nicht halten können, wenn wir alles laufen lassen.“ Deutschland müsse Zuwanderern die Integration erleichtern und legale Zugangswege schaffen. Doch wer kein Aufenthaltsrecht bekomme, müsse gehen. „Es braucht klare Regeln – und der Rechtsstaat muss dann auch in der Lage sein, die durchzusetzen.“

„Es passt nicht zur SPD“

Klare Regeln – gegen die hat auch Serpil Midyatli nichts. Die frisch gewählte Chefin der schleswig-holsteinischen SPD gilt als Pragmatikerin, die sagt, sie habe nichts gegen eine „ehrliche Debatte“ darüber, wie viel Integration in Deutschland möglich sei. Trotzdem hat sie als eine von wenigen hochrangigen GenossInnen eine parteiinterne Petition an die Bundestagsfraktion gegen die Unterstützung des „Geordnete-Rückkehr-Gesetzes“ unterzeichnet.

„Dieses Gesetz passt einfach nicht zur SPD. Es ist Teil eines schweren Kompromisses mit der Union.“ Demgegenüber stehe eine Reform der Fachkräfteeinwanderung, die auch „kein großer Wurf“ sei, sondern lediglich ein viel zu teuer erkaufter Minimalkonsens, so Midyatli. „Das reicht einfach nicht, um das Leben der Menschen insgesamt zu verbessern.“ Die SPD müsse endlich klar machen, welche eigene Haltung sie in der Frage vertrete – und das sei in der Großen Koalition nicht möglich.

Eine Haltung, eine klare Linie: Die Forderung danach ist derzeit so ziemlich das Einzige, auf das sich alle SozialdemokratInnen einigen können. Auch Lars Castellucci sagt, es gebe „viel Klärungsbedarf“ im Umgang mit Migration. Seit 2015 habe Hektik dominiert, man habe nur reagiert: „Grundlegende Dinge zu klären braucht Zeit. Die nehmen wir uns jetzt.“

Doch der Streit um das Gesetzespaket zeigt, dass nicht nur die mangelnde Zeit oder die Groko am migrationspolitischen Schlingerkurs der SPD schuld sind. Vielmehr herrschen in der Partei grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen darüber, was eine sozialdemokratische Vision für das Einwanderungsland Deutschland sein könnte. Lars Castellucci wünscht sich dazu eine sachliche Debatte zwischen den verschiedenen Parteiflügeln. „Wir müssen wieder Volkspartei lernen.“

SPD gegen SPD

Eine sachliche Debatte? Im Moment sieht wenig danach aus. Das Gesetzespaket ist beschlossen, die Partei mit Personalfragen beschäftigt – und in den sozialen Netzwerken kommt es zu heftigen Streiten. Zuletzt hat eine Entgleisung von Thomas Oppermann für Aufsehen gesorgt. Er hatte an KritikerInnen des Gesetzespakets private Nachrichten verschickt und etwa Aziz Bozkurt, den Vorsitzenden der AG Migration und Vielfalt in der SPD, einen „üblen Verleumder“ genannt.

Ein junger Mann steht vor einem Baum mit gelbem Laub

Igor Matviyets engagiert sich bei der SPD in Halle, wo die Partei einen schwierigen Stand hat Foto: Florian Korb

Zugleich beklagten BundespolitikerInnen, die Kritik ziele zu oft unter die Gürtellinie. Die SPD-Fraktionsvizechefin Eva Högl etwa beklagte wochenlange „Vorwürfe, Verleumdungen, Anfeindungen, Hetze, Hass von den eigenen Leuten“.

Auch Igor Matviyets hat sich in den vergangenen Wochen in den sozialen Netzwerken mit BundespolitikerInnen gestritten. Aus seiner Sicht ist es höchste Zeit, dass sich die Basis lauter zu Wort meldet. In Berlin höre man auf Sigmar Gabriel, schaue auf Dänemark: „Aber was wir hier vor Ort sagen, interessiert nicht.“

Der 27-Jährige engagiert sich bei der SPD in Halle, wo die Partei einen schwierigen Stand hat. Bei den Kommunalwahlen im Mai hat er für einen Sitz im Stadtrat kandidiert – ohne Erfolg. Wenn das Gesetzespaket zur Migration damals schon beschlossen gewesen wäre, hätte ihm das kein bisschen geholfen, glaubt er. Im Gegenteil: Solche Verschärfungen belasteten das Verhältnis zu Engagierten vor Ort, bei allen anderen komme es gar nicht an. „Wir versprechen da Menschen, die uns eh nicht wählen würden, Dinge, die wir am Ende nicht werden umsetzen können. Das ist doch ein Pulverfass.“

Umverteilung statt Asylrechtsverschärfung

Dass KritikerInnen wie ihm von der Parteiführung vorgeworfen werde, realitätsfern zu sein oder in einer linken Blase zu leben, ärgert Matviyets. Mit seinen Eltern kam er 1999 als jüdischer Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland. Als Kind, das echte Armut erlebte, habe er sein neues Zuhause zuerst als starken Sozialstaat kennengelernt, erzählt er. Weil er für freie Bildung, Arbeitnehmerrechte und soziale Sicherungssysteme kämpfen wollte, ging er später zur SPD. Mit den Grünen habe er „als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund“ wenig am Hut.

Das einzige SPD-Thema, das vor der Wahl bei den Leuten vor Ort durchgedrungen sei, sei die von Juso-Chef Kevin Kühnert angestoßene Enteignungsdebatte gewesen, sagt Matviyets. Das bestärkt ihn in seiner Überzeugung, dass die SPD verlorene Wähler nur mit einer „mutigen Umverteilungspolitik“ wieder zurückgewinnen könne. Weil man sich aber nicht an die Privilegien der Wohlhabenden rantraue, schiebe man die Asylpolitik vor, glaubt er.

Giorgio Nasseh sagt, er habe nach zehn Jahren und „den immer gleichen Diskussionen“ den Glauben an die Reformfähigkeit der Bundes-SPD fast verloren. Seine Hoffnungen ruhen jetzt auf dem geplanten Mitgliederentscheid zum neuen Parteivorsitz, von dem er sich ein Signal für eine offenere Partei verspricht. „Ich glaube, das ist die letzte Chance.“

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