Fusion Festival in Lärz: Glitzern mit Dreck an den Nägeln

Viel Aufregung gab es im Vorfeld um das Musikfestival in Mecklenburg-Vorpommern. Unser Autor war dort und fand eine eigene Welt vor.

Festivalbesucher tanzen an der Turmbühne auf dem Gelände des Fusion-Festival 2019

Auch ohne Polizei vor Ort blieb es friedlich auf dem Fusion Festival Foto: dpa

LÄRZ taz | Die Luft ist heiß, doch du stehst in einem schattigen Birkenwäldchen. Die Musik ist laut, du spürst den Bass im Magen, deine Füße tauchen beim Tanzen immer wieder in den kühlen Sand ein. Auch dein Nebenmann ist barfuß, er reicht dir einen Joint rüber. Den Becher mit Cola in der Hand hast du gekauft, die passende Flasche Rum dazu hast du aus deinem Zelt mitgebracht. Du willst die Musik noch mehr spüren, und als du dich der ersten Reihe vor der Bühne näherst, gibt es keine Security-Schränke, die dir böse Blicke zuwerfen.

Im mecklenburgischen Lärz nahe dem Müritzsee wird jedes Jahr Ende Juni der Hippie-Traum für 70.000 Menschen Realität. Auf einem ehemaligen Militärflugplatz, der 1993 von der russischen Armee verlassen wurde, gibt es seit 1997 einen „Fluchtort vor kapitalistischer Marktlogik und repressiver Ordnungspolitik“ (Die Zeit): das Fusion Festival.

Ein Musikfestival ohne Großsponsoren und Werbung, mit vegetarischen Ständen und geringstmöglichen Einlasskontrollen. Mittlerweile kostet ein Ticket mehr als 140 Euro. Wer sich das nicht leisten kann, geht zum festivaleigenen Arbeitsamt und lässt sich für Schichten einteilen. Das Line-up wird kurz vor dem Wochenende bekannt gegeben, dennoch geht die Ticket-Nachfrage sieben Monate zuvor stets in die Hunderttausende. Ein „Karneval der Sinne“ schwebt den VeranstalterInnen vor, Vereine aus ganz Deutschland gehören dazu, jeder kuratiert eigene Bühnen, es gibt mehr als 25.

„Dieses Jahr sind viel weniger bekannte Bands dabei“, moniert eine Besucherin beim Blättern durch den Zeitplan und frischt den Glitzer im Gesicht auf. Sie sitzt irgendwo inmitten der riesigen Zeltstadt, 25 Minuten Fußmarsch vom Kerngelände entfernt und doch akustisch ganz nahe.

Die neue Folge der Lokalrunde, dem Bewegungs- und Politik-Podcast aus Hamburg und Berlin, beschäftigt sich mit der Sicherheit auf der Fusion. Wie konnte der Polizei-Großeinsatz abgewehrt werden und wie organisiert man Sicherheit für 70.000 BesucherInnen? Ein Interview mit den Sicherheits-Beauftragten zwischen Turmbühne und Campingplatz.

Nach sehr kurzer Nacht wird man hier morgens früh um 7 zum ersten Mal im Takt von 120 bpm wach und spürt den Bass im Gras unter sich, obwohl der für seine unbarmherzigen Techno-Klänge berüchtigte Spielort „Bachstelzen“ mindestens 600 Meter entfernt ist. Einige der Bühnen werden von Donnerstag bis Montag rund um die Uhr bespielt – abgesehen von einer täglichen zweistündigen Feierpause.

Partylastige Konzerte der Punkrocker

Was die Prominenz der KünstlerInnen angeht, hat die Feierwütige mit den Glitzerfedern auf den Wangen unrecht: die Fusion hat nie auf große Namen gesetzt. Performances, Installationen und Subkultur-Projekte bildeten von Anfang an das Herz des Festivals. Doch selbst hier ist man nicht vor Populärem gefeit: Im festivaleigenen Kino läuft das spießige Queen-Biopic „Bohemian Rhapsody“, und richtig eng wird es tagsüber vor allem bei den partylastigen Konzerten der Punkrocker von Feine Sahne Fischfilet und der Techno-Marching-Band Meute.

Doch so sehr in Gefahr wie im Jahr 2019 war die Utopie noch nie

Prominente Techno- und House-DJs bespielen die zutiefst beeindruckenden Elektronik-Venues, visuell ragen hier die stets staubumtoste Tanzwüste und besonders die Turmbühne heraus: Der Techno-Tempel mit den riesigen, kreisförmig angeordneten Lautsprechertürmen mutete an, als wären die Stonehenge-Monolithen in das Filmset von „Blade Runner“ geraten.

Leisere Töne kommen naturgemäß schwer gegen die Beatgewalt an. In den Passagen, in denen Soulkünstlerin Hannah Williams nur mit ihren Sängerinnen a cappella performt, wummert es von nebenan so heftig, dass man um die Konzentration der Britin besorgt ist. Doch die Frau nimmt es locker. Wie man überhaupt nach nicht einmal 24 Stunden auf dem Gelände selbst spürbar heruntergefahren ist, auch ganz ohne Rauschmittel.

Hier hat man Zeit. Um mit der Kassiererin im festivaleigenen, in drolliger DDR-Nostalgie „Konsum“ getauften Supermarkt über die Vorzüge bestimmter Substanzen zu diskutieren. Um sich auf dem Weg aufs Gelände von freundlichen Ordnern mit kühlendem Wasser aus Sprühflaschen benetzen zu lassen. Um im letzten Abendlicht zwischen „Sonnendeck“ und „Loser’s Arcade“ eine Partie Tischtennis zu spielen.

Geplant waren Räumpanzer und Wasserwerfer

Doch so sehr in Gefahr wie 2019 war die Utopie noch nie. Der brandenburgische Polizeipräsident Nils Hoffmann-Ritterbusch hatte im Mai wie aus dem Nichts heraus gefordert, eine Polizeiwache auf dem Fusion-Gelände errichten zu können. Die Beamten hätten stets „anlasslose Bestreifungen“ vornehmen sollen, Räumpanzer und Wasserwerfer waren geplant – Vorhaben, die die 70.000 Menschen mit Sicherheit in zusätzliche Gefahr gebracht hätten. Die Fusion blieb unnachgiebig, die Pläne zerschlugen sich.

„Noch vor zwei Monaten standen wir vor der Sorge, dass dies die letzte Fusion sein könnte und dem Festival für immer sein Charakter genommen würde“, sagt Presse-Koordinator Linus Neumann. „Diese Sorgen sind wir fürs Erste los, weil wir nach längerem Ringen einen zukunftsfähigen Kompromiss erreicht haben“.

Harmonie aller Orten also, und nachdem man Drogenkontrollen passiert und sein Gepäck über das Lärzer Rollfeld geschleppt hat, sieht man von der Polizei tatsächlich: nichts. KünstlerInnen und Publikum können es sich leisten, das Thema komplett zu ignorieren, von Aufklebern mit „Love is where the Nils is not“ einmal abgesehen. Der Tod eines in seinem Zelt aufgefundenen 28-Jährigen trübte allerdings den harmonischen Gesamteindruck, das Festival gedachte seiner mit 15 Schweigeminuten.

Virtuose Laser- und Lichtinstallationen

Wer dieses Festival besucht hat, weiß: Das Mysterium Fusion ist nicht so nebulös, wie es scheint. Weder passieren unsagbare Dinge auf dem Dancefloor, noch schmeißt sich hier jede zweite eine Apothekertasche voller Pillen ein. Die Faszination Fusion machen die sehr freundlichen, trotz Augenringen sehr ausgeruhten Menschen aus. Die Musik hat trotz des fantastischen Sounds keinen Vorrang, vielleicht spielt sie sogar noch eine zu große Rolle. Denn dieses Festival ist zuvorderst ein Wunder des Handwerks: Zu bestaunen sind virtuose Laser- und Lichtinstallationen, wundersamer Baumschmuck und grandiose Podeste, Treppen und Sitzgelegenheiten, geschaffen von selten begabten Zimmermännern. Schöner hat man Holz nie verarbeitet gesehen.

Auch auf dem Fusion Festival gibt es sie, die Mädchen mit dem verklärten Blick und die Jungs mit den glasigen Augen. Aber hier belästigen sie niemanden. Keine Aggressivität. Während eines fünftägigen Festivals nicht einmal angerempelt zu werden – das ist unter 70.000 sonst unmöglich. Steht man auf dem Heimweg mit Glitzer auf der Stirn und Dreck unter den Fingernägel im Bratwurstdunst an der Raststätte ab, mutet die 9-to-5-Gesellschaft seltsam an.

Die Fusion zeigt: Eine andere Welt ist möglich. Eine Welt ohne Handyempfang, in der keiner Tiere isst und köstlichstes Essen dennoch jederzeit erhältlich ist, eine Welt mit geringsten Verboten, die dennoch stressfrei funktioniert: weil sie eine Welt der Rücksichtnahme ist. Eine Welt, in der jede im geringeren Tempo unterwegs ist und dabei Ziele neu justiert. Eine Welt, in der man sich auch einmal daneben benehmen kann, solange man dabei keinem anderen schadet. Eine weniger pünktliche Welt mit schmutzigen Füßen und sehr viel Bass.

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