Prozess zum Tod eines Säuglings: Arzttermin war zu spät

In Hamburg steht ein Elternpaar vor Gericht, weil sie ihren unterernährten Sohn nicht zum Arzt brachten. Der kleine Junge starb mit zwei Monaten.

Zum Prozess-Auftakt schützten sich Vater und Mutter mit Mappen vor den Fotografen Foto: dpa

HAMBURG TAZ Gleich zu Beginn bei der Aussage Angeklagten war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Doch als gleich im Anschluss der Notruf abgespielt wurde, der bei der Feuerwehr einging, liefen bei Vater S. und Mutter M. die Tränen. „Meine Frau ist aufgestanden. Ihr Baby ist still“, spricht der Mann aufgelöst in den Hörer. Man hört Weinen und Stimmen im Hintergrund. Der Feuerwehrmann gibt den Eltern über Telefon eine Anleitung zur Reanimation. Sie sollen das Kind auf den Tisch legen, es beatmen. Kurz darauf klingeln die Rettungsleute an der Tür, nehmen das Baby mit in die Klinik. Doch dort wird es nicht wieder zum Leben erweckt.

Weil der kleine Mohamed nie beim Kinderarzt war, muss sich das Elternpaar aus Hamburg-Schnelsen vor dem Amtsgericht verantworten. Vorwurf: Fahrlässige Tötung durch Unterlassen. Das Baby, jüngstes Geschwister von sieben Kindern, starb am 13. November 2017. Zum Ende des ersten Prozesstages scheint klar: Fatal war, dass ein für den 6. November geplanter Arzttermin auf den 14. November verschoben wurde.

„Jeder vernünftige Kinderarzt hätte das Kind sofort in einer Klinik mit einer Infusion behandelt lassen“, sagte der Rechtsmediziner Klaus Püschel vor Gericht. Schon auf einem Foto des Babys vom 6. November sei die Unterernährung deutlich gewesen.

Die Mutter stillte das Kind

Der Mediziner stellte bei der Obduktion fest, dass das Kind an einer Austrocknung und Unterernährung litt. Der Kleine hatte eine Dickdarmentzündung, die dringend behandelt gehört hätte. „Es war kein plötzlicher Kindstod. Das Kind war mehrere Tage im deutlich schlechtem Zustand“, sagt Püschel.

„Ich habe noch nie ein so abgemagertes Kind gesehen“, sagte Kinderarzt Philipp Deindl von der Uniklinik Eppendorf (UKE), der als zweiter Sachverständiger gehört wurde. Er hatte das Kind im UKE entgegengenommen und die Reannimation betreut. Sogar die Fettpolster um die Augen, das letzte Resevoir, wären aufgebraucht gewesen.

Deindl hatte noch in der Klinik mit den Eltern gesprochen. Auch die Geschwister konnten noch Abschied nehmen. Und die Mutter habe gesagt, dass sie das Kind voll stillte und ihm manchmal bei Unruhe etwas Honig gab. Der Junge wog bei seinem Tod mit 2.823 Gramm sogar etwas weniger als bei der Geburt. Er hätte aber etwa 4,7 Kilo wiegen müssen, sagte Deindl.

Die Mutter ging gleich nach der Geburt nach Hause. Zuhause waren sechs weitere Kinder zu versorgen

„Verhungern an der Brust“

Er hält es für möglich, dass dem Kind passiert, was „Verhungern an der Brust“ heißt. „Das Kind saugt aus der Brust und bekommt nichts heraus. Dass das Kind einschläft, kann Folge von Erschöpfung sein.“ Da müsse man zufüttern. Ob ein Kind normal zunimmt, könne man nur durch Wiegen erfahren.

Der Junge habe an chronischen Mangelernährung gelitten, bei der die Dickdarm-Erkrankung „oben drauf kam“. Nicht wahrscheinlich, aber auch nicht hundertprozentig auszuschließen sei auch eine Resorptionsstörung, die dazu führt, dass ein Kind aus der Milch zu wenig Kalorien aufnehmen kann.

Die Familie lebt in einer Drei-Zimmer-Wohnung, die „für die Anzahl der Kinder relativ klein ist“ ist, aber „sauber und ordentlich“, wie es dem Polizisten, der gerufen wurde, auffiel. Die Mutter schlief im unteren Stockbett in einem der Kinderzimmer, neben sich das Baby-Bettchen mit blauem Himmel. Der Vater nächtigte im Wohnzimmer.

Auf Fotos auch dünne Geschwister

Die dünne Erscheinung des jüngsten Kindes war dem Vater aufgefallen. Die Eltern verglichen es mit Babyfotos der älteren Geschwister, die auch bei der Geburt sehr dünn gewesen seien. Dazu sagte Püschel, diese hätten als Laien wohl übersehen, dass vier der sechs Kinder zu früh kamen und schon deshalb dünner waren.

Die Geschwister waren nach dem Tod des Jungen von der Rechtsmedizin angeschaut worden. Sie seien in guten Zustand gewesen, erklärte Püschel. Zwei seien auffallend schlank gewesen. Die Eltern, die ihre Kinder begleiteten, habe man als „fürsorglich und liebevoll“ erlebt.

Doch Püschel schrieb in seinem Bericht an Gericht auch, dass „die Beobachtungsschärfe der Mutter in ihrer speziellen Situation durchaus eingeschränkt“ sein könnte. Die 32-Jährige hatte einen Haushalt mit sieben Kindern zu versorgen und keine Haushaltshilfe.

Wichtige Blutuntersuchung blieb aus

Gleich nach der Geburt ließ sie sich entlassen, um auch wieder für die anderen da zu sein. So durchlief Mohamed nur die Kinderarzt-Untersuchung U1 direkt nach der Geburt. Die spätere U2 nach 48 Stunden und eine wichtige Blutuntersuchung blieben aus. Auch zur U 3 nach vier bis sechs Wochen kam er nicht.

Eine Kinderärztin aus Schnelsen sagte aus, dass die Mutter für den 4. September einen U2-Arztermin vereinbarte hatte, aber nicht kam. Später habe der Vater angerufen und für den 6. November den U3-Termin vereinbart, ihn dann aber auf den 14. November verschoben. Als die Familie dann auch nicht kam, habe ihr Azubi nachgefragt, wo sie blieben. Da war das Kind schon tot. Generell, so die Ärztin, seien die Besuche freiwillig. Man könne Eltern nicht zwingen.

Die Familie hatte Kontakt zum Jugendamt. Für dessen Vernehmung war die Öffentlichkeit auch ausgeschlossen. Richterin Monika Schorn fasste das Ergebnis kurz zusammen. Es habe von 2010 bis 2016 jährliche Hausbesuche gegeben und „etliche Hinweise, dass die Mutter stark überfordert war“. Dennoch habe das Amt keinen Handlungsbedarf gesehen.

Verschärfte Anklage in Aussicht gestellt

Der Prozess wird am 10. Juli fortgesetzt. Die Staatsanwältin stellte eine verschärfte Anklage in Aussicht. „Das Ganze weist eine Nähe zu bedingtem Tötungsvorsatz vor“. Eine Anklage wegen Totschlags müsste vor dem Schwurgericht verhandelt werden. Bis zum 10. Juli wollen die Eltern, die bisher nur Einlassungen von ihren Anwälten verlesen ließen, überlegen, ob sie noch eine Erklärung abgeben.

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