Verschenktes Potenzial

Der Erwerb von Tickets ist an den WM-Spielorten kompliziert und die Stadien sind auch deshalb halb leer.
Spontane Begeisterung entsteht so kaum – zumal die Public-Viewing-Angebote ebenfalls beschränkt sind

Einsame Stimmungsmacherinnen: Beim Spiel England gegen Schottland haben es in Nizza nicht viele ins Stadion geschafft Foto: Eric Gaillard/reuters

Aus Nizza Alina Schwermer

Die ältere Dame an der Strandpromenade ist empört. „Seit Tagen versuche ich, ein Ticket zu kaufen“, sagt sie. „Aber niemand hier kann mir weiterhelfen. Wissen Sie, wie das geht?“ Ich sitze in Nizza an der Promenade des Anglais, und vor uns, im von Palmen gesäumten Park, ist die Fifa Fan Experience. Sie ist geschlossen, wie so oft. Ein guter Ort, um über die WM zu reden. Ich erkläre der Frau, dass sie das Ticket online kaufen muss, auf der Website der Fifa. Das habe sie versucht, sie kommt damit nicht zurecht. „Warum verkaufen sie nicht einfach Tickets in der Stadt? Die Stadien sind halb leer, das sieht man doch am Fernseher.“ Sie will jetzt auf gut Glück zu einem Spiel fahren. Ich gebe zu bedenken, dass das schiefgehen könnte, aber sie lacht nur hilflos: „Warum bemühen sie sich nicht um Leute? Das liegt nur daran, dass das hier eine Frauen-WM ist.“

Ihr verzweifelter Mut dürfte belohnt worden sein. Wie die Fifa auf Anfrage mitteilte, können kurz vor Spielbeginn auch in den Stadien Karten erworben werden. Ansonsten bleibt nur der Weg über die komplizierten Internetportale. Beim Randsport Frauenfußball eine völlig sinnlose Hürde. Das hat hier schon öfter für Unmut gesorgt. Nach aktuellen Angaben hat die Fifa für die WM bislang eine Million Karten verkauft. 14 von 52 Spielen sollen ausverkauft sein, darunter die Gruppenspiele der Französinnen, die Halbfinals und das Finale. Noch etwa 300.000 Tickets seien zu haben. Damit wären immerhin über drei Viertel der Karten vergeben. Beim Spiel England gegen Schottland in Nizza waren indes von 35.000 Plätzen nur 13.000 besetzt, beim Auftaktspiel der Deutschen gegen China blieb knapp die Hälfte der Plätze leer. Wer realistisch kalkuliert, bemüht sich um mehr Kartenverkauf oder geht in kleinere Stadien.

Wenn man in Nizza an der Strandpromenade sitzt, bekommt man den Eindruck, dass mehr Zuspruch nicht unmöglich gewesen wäre. Bei der Plakatierung hat sich die Fifa nämlich Mühe gegeben: Alle paar Meter stehen hier Schilder, und zuweilen halten Passanten an. Aber spontan Karten erwerben können sie nirgendwo. Einige laufen zur Fan Experience, bleiben am geschlossenen Zaun stehen, drehen ratlos wieder ab. Wenn Turniere im Handball oder in der Leichtathletik veranstaltet werden, gehören außerdem längst zum Standardrepertoire auch Aktionen in den Innenstädten, Freikarten an Kinder, Schülerturniere, offene WM-Meilen, Infostände. Im Land des besten Frauenteams der Welt viel verschenktes Potenzial.

Wer realistisch kalkuliert, bemüht sich um mehr Kartenverkauf oder kleinere Stadien

Freilich sind die Zuschauerzahlen auch eine Frage der Perspektive. Für eine Sportart, die in Deutschland durchschnittlich 800 Menschen ins Stadion lockt, sind 13.000 Besucher enorm. Ist eine Wachstumsgrenze erreicht? Seit dem Boom-Turnier in den USA mit durchschnittlich 37.000 Zuschauerinnen haben sich die Zahlen auf einem niedrigeren Niveau eingependelt, zuletzt zweimal bei etwa 26.000 Zuschauern. Den Höchstwert von 1,3 Millionen in Kanada 2015 kann dieses Turnier kaum mehr erreichen. In Deutschland tut sich die WM trotz der Bemühungen einiger Print-Medien bislang schwer. Die TV-Werte, 3 Millionen zum Eröffnungsspiel, 4 Millionen zum ersten Spiel der Deutschen, sind mittelmäßig. Zur Zeit des Frauenfußball-Booms während der WM 2011 in Deutschland schalteten bis zu 17 Millionen ein. Der Frauenfußball war schon weiter. Anderswo gibt es den Hype durchaus: Großbritannien und Frankreich feiern gerade neue TV-Rekorde, mit 6 beziehungsweise 9 Millionen Zuschauern.

In Nizza sind es vor allem Frauen, die mir erzählen, dass sie am Fernseher gucken. Zwei Englischsprachige kommen vorbei, sie suchen eine Möglichkeit, das nächste Spiel zu sehen. Wir rufen den Wachmann der Fan Experience. Ob er uns nicht aufmachen könne? Er verneint. „Wir zeigen nur die Spiele, die in Nizza stattfinden.“ Wobei, eigentlich zeige man alle Spiele. Und warum heute nicht? Der junge Mann schaut irritiert: „Heute ist ein Spiel?“ Ob er das nicht wissen müsse? Er grinst. „Ich schaue doch keinen Frauenfußball.“ Vielleicht würden auch Ticketbuden nur bedingt helfen. Er schlägt dann noch ein Match vor, um uns zu demonstrieren, dass Frauen nicht kicken können. Die beiden Touristinnen wenden sich ab. „Es ist schon ein bisschen irre“, sagt die eine, „wir sind in der WM-Stadt und können das Spiel nicht sehen.“ Sie peilen eine Bar in der Altstadt an, wo das Spiel gezeigt werden soll.