berliner szenen
: Alt werden, ohne es zu merken

Am Tag des Konzertes verkaufe ich die Eintrittskarte für die Hälfte des Geldes. Eine Freundin antwortet auf mein Angebot per WhatsApp: „Danke, vor zwanzig Jahren hätte ich alles gegeben, um sie zu sehen, aber es ist zu spät.“ Mir geht es ähnlich. Ich hätte gerne „Adore“ oder „1979“ live gehört. Doch ich weiß nicht einmal, wie die neue Platte der Smashing Pumpkins heißt, und als ich im Internet sehe, wie sie heute aussehen, frage ich mich, wie man so alt werden kann, ohne es zu merken, und danach gucke ich mich lange im Spiegel an.

Die Gründe, warum ich nicht selber zu dem Konzert gehe, sind, dass ich mich mit dem Freund gestritten habe, mit dem ich gehen wollte, und dass ich meinen Tanzkurs nicht verpassen möchte. Auch wenn es so heiß ist, dass ich mich frage, ob ich beim Tanzen nicht in Ohnmacht fallen werde. Endlich sagt jemand Ja: Eine Freundin und eine weitere Freundin teilen sich den Preis der Karte und machen einer dritten Freundin eine große Freude. Für sie erklären sie sich sogar bereit zu babysitten, und zwar mit Open End. Also gut, dass jemand zum Konzert geht und sich darauf richtig freut.

Ich warte währenddessen, dass der Tanzkurs beginnt und rauche vor der Tür eine Zigarette, als ein Chor junger weiblicher Stimmen durchs Proberaumfenster meine Ohren erreicht. „Alouette“ singen sie auf Französisch und stampfen auf den Boden. Eine dicke Wolke zieht über uns, als wäre sie mit dem Crescendo der Musik synchronisiert, ein heißer Wind wirbelt durch die Bäume des Theaterhauses Mitte, und es fängt an zu regnen. Ich bringe meine Tasche unters Dach, bleibe aber im Regen, um mich erfrischen zu lassen. Der Chor wird noch lauter und der Himmel noch dunkler, als würden sie konkurrieren. Ich fühle mich privilegiert, die einzige Zuschauerin des Spektakels zu sein.

Luciana Ferrando