Leïla Slimanis Debütroman: Entgrenzte Sexualität

Der Roman „All das zu verlieren“ reiht sich ein in eine Vielzahl von Büchern, in denen Autorinnen über Promiskuität und Körperlichkeit schreiben.

Leïla Slimani 2017 auf der Buchmesse in Frankfurt/Main

Lust an Grenzüberschreitungen: Leïla Slimani Foto: imago-images/Hoffmann

Erotisches Begehren und sexuelle Vorlieben sind der Intimität der Privatsphäre zugeordnet, auch deswegen hat Literatur, die von Sex erzählt, das Potenzial zu schockieren, denn dieser Bereich ist mit zahlreichen Normen und Tabus belegt. Weibliche Sexualität wird zudem von einem Geflecht sexistischer Unterdrückung und asymmetrischer Machtverhältnisse beeinflusst, weswegen bereits die Aneignung dieses Themas durch Autorinnen, der Versuch, eigene Erzählungen und Perspektiven zu formulieren, als feministische Geste gedeutet werden kann. Es heißt, das Private sei politisch, doch nicht jeder Roman über das Private ist gleich ein emanzipatives Meisterwerk.

Fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung in Frankreich ist nun der Debütroman der französisch-marokkanischen Schrift­stellerin Leïla Slimani mit dem Titel „All das zu verlieren“ im Luchterhand Verlag erschienen. Im Zentrum steht das Pariser Doppelleben der Journalistin Adèle. Ihre bürgerliche Ehe mit einem erfolgreichen Arzt und einem kleinen Sohn ist so beengend, dass sie Zuflucht in außerehelichen Affären sucht.

„Sie erinnert sich an nichts Genaues, doch Männer sind die einzigen Bezugspunkte ihres Daseins. Zu jeder Jahreszeit, jedem Geburtstag, jedem Ereignis in ihrem Leben gehört ein Liebhaber mit verschwommenen Zügen. Ihr Vergessen ist durchzogen von dem beruhigenden Gefühl, im Verlangen der anderen tausendfach gelebt zu haben.“ Fieberhaft auf der Suche, eine innere Leere zu füllen, eskaliert Adèles Sexsucht, das komplexe Lügengebäude droht einzustürzen.

Slimanis Roman ist nicht das einzige aktuelle Buch einer Autorin, das freizügig und mit großer Lust an Grenzüberschreitung das Thema Sex literarisch behandelt. Die Erfolgserzählung „Cat Person“ von Kristen Roupenian, in der die Graubereiche einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs ausgelotet werden, erschien in einem Erzählungsband gleichen Titels bei Blumenbar.

Matthes & Seitz schickten ein Autorinnenduo mit dem urbanen Analsexreigen „M“ ins Rennen, und die Frankfurter Verlagsanstalt veröffentlichte den Debütroman von Corinna T. Sievers über eine erotomanische Zahnärztin.

Folgen von MeToo

Auch international war dieses Phänomen in den letzten Jahren bemerkbar: Sally Rooney, Melissa Broder, Saskia Vogel und Sophie Mackintosh schrieben über Sex, Körperlichkeit, Gewalt und Unterwerfung. Es liegt nahe, die Häufung von Literatur mit diesem Themenkomplex als Zeichen feministischer Selbstthematisierung in Folge der MeToo-Debatte von 2017 zu deuten.

Sprachlich und inhaltlich werden mit teilweise extrem gewaltvollen Schilderungen von nicht immer klar einvernehmlichem Sex viele Fragen aufgeworfen: Wo beginnt und endet das Einvernehmen? Wie prägen Machtverhältnisse den Geschlechtsakt? Wie lassen sich Gewalt und Sex voneinander abgrenzen?

Wann funktioniert pathologischer Sex als Metapher für pathologische Strukturen?

Diese Themen sind jedoch nicht erst seit 2017 in der Literatur zu finden, schon um die Jahrtausendwende befassten sich Romane mit grenzüberschreitender weiblicher Sexualität und Körperlichkeit – von Menstruationsblut bis zur Analfissur. Von Charlotte Roche in Deutschland zu Catherine Millet und Virginie Despentes in Frankreich haben Autorinnen bereits vor MeToo mit Schockeffekten weibliche Sexualität thematisiert, auch Slimanis Debüt erschien bereits 2014.

Der Roman ist somit Teil eines Trends – und er verfehlt doch das Ziel einer emanzipativen Erzählung. Die Anhäufung drastischer Sexszenen, die Gewalt und die jegliche bürgerliche Moral missachtende Protagonistin in „All das zu verlieren“ sind als Romanthema nicht so innovativ und feministisch, wie die Rezeption des Romans suggeriert. Es ist ein Kurzschluss anzunehmen, dass drastisches Erzählen von Sex durch Autorinnen per se feministisch sei.

Die literarische Perspektive von Autorinnen auf Erotik, Begehren und Sex ist historisch eng verknüpft mit der Geschichte der Emanzipation der Frau. Bereits während der ersten großen Welle der Frauenbewegung, in der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts, wurden neben dem Kampf für ein Wahlrecht auch Debatten über die sexuelle Freiheit der Frau geführt, und in der Literatur schlugen sie sich nieder.

Schluss mit der Doppelmoral

Die skandinavische Öffentlichkeit diskutierte beispielsweise das anonym veröffentliche Buch eines englischen Arztes, der den weiblichen Sexualtrieb als ebenso groß wie den männlichen bezeichnete. In der Folge forderte die eine Seite ein Ende der Doppelmoral – für Männer sollten in Zukunft gleiche moralische Normen gelten wie für Frauen –, und die andere Seite strebte eine kollektive sexuelle Befreiung an. Die Vorstellung einer madonnenhaft unschuldigen Weiblichkeit geriet ins Wanken, und Autorinnen griffen dieses Thema gerne auf.

Leïla Slimani: „All das zu verlieren“. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand, München 2019, 224 Seiten, 22 Euro

Ab den 70er Jahren, zur Hochphase der zweiten Welle des Feminismus, wurden zahlreiche Bücher von Autorinnen veröffentlicht, die mit großem Markt­erfolg die Möglichkeiten literarischer Erotik ausloteten. 1977 erschienen erstmalig Anaïs Nins erotische Kurzgeschichten unter dem Titel „Das Delta der Venus“, die bereits in den 1940er Jahren verfasst worden waren, und der 1988 veröffentlichte erotische Bestseller „Salz auf unserer Haut“ der französischen Autorin Benoîte Groult war mit dezidiert feministischem Anspruch geschrieben.

Ebenfalls in dieser Zeit begannen Autorinnen, wie Elfriede Jelinek oder Mary Gaitskill, sich mit den sprachlichen und inhaltlichen Möglichkeiten von Tabubruch und Gewalt im Schreiben über Sex auseinanderzusetzen.

Quellen der Unfreiheit

Slimanis Roman befindet sich also in guter Gesellschaft, eine Vielzahl an Vorgängertexten hat sich mit dem emanzipativen Potenzial von Sex als literarischem Thema befasst und dabei den Bruch von Tabus in Kauf genommen. Im Zentrum von „All das zu verlieren“ steht jedoch nicht Sex als emanzipative Möglichkeit, sondern als endloses Erforschen von Machtverhältnissen. Über ihre Hauptfigur Adèle schreibt Slimani: „Sie verstand rasch, dass das Begehren keine Rolle spielte. Sie hatte kein Verlangen nach den Männern, denen sie sich näherte. Ihr ging es nicht um die Körper, sondern um die Situation. Genommen werden.“

Trotz der vielen Vorläuferinnen sind die zwei sehr deutlich markierten literarischen Bezüge in Slimanis Werk von Männern verfasst: Gustave Flauberts „Madame Bovary“ und Milan Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Die Referenzen auf Flaubert sind inhaltlich begründet: Adèle lässt sich guten Gewissens, wie auch bereits vielerorts angemerkt, als eine moderne Madame Bovary bezeichnen, auch wenn sie in Slimanis Variante nicht an romantischer Sehnsucht und Langeweile zugrunde geht, sondern an ihrer Sexsucht.

Die Anspielungen auf Kundera sind hingegen explizit, ein Zitat aus seinem Roman ist Slimanis Buch vorangestellt, und auch im Text wird sein bekanntestes Werk thematisiert. Kunderas Figur Tomas gibt sich wie Slimanis Adèle zahlreichen Affären hin, hier wird die sexuelle Promiskuität des Protagonisten nach dem Prager Frühling jedoch zu einer Möglichkeit individueller Freiheit in einem totalitären Regime.

Bei Slimani liegt wiederum die Quelle der Unfreiheit in den Geschlechterverhältnissen, den erstickenden Anforderungen von Mutterschaft und den ermüdenden bürgerlichen Erwartungen an die Frau, die sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum weder Sicherheit noch Freiheit erleben kann. Dieser prekären Situation stellt Adèle ihre Sexsucht entgegen: „Die Erotik bemäntelte alles. Sie verbarg die Trivialität, die Nichtigkeit der Dinge.“ Doch trotz des Begehrens der Männer und auch trotz des bewusst gesuchten Risikos kann sie ihren Objektstatus nicht abschütteln oder ihre Ängste vor körperlichen Übergriffen und Vergewaltigungen überwinden.

Slimanis Erzählung von pathologischem Sex als Metapher für pathologische Strukturen könnte innovativ und voller kritischen Potenzials sein, würde dieser Ansatz nicht durch die raunende Psychologisierung der Hauptfigur permanent unterlaufen. Adèles schlimme Kindheit ist wiederholt Thema von Rückblicken, und ihre innere Leere lässt sie beinahe psychopathisch wirken.

Der Roman bestätigt so leider indirekt das konservativ-bürgerliche Weltbild, das den Ausgangsrahmen der Erzählung bildet. Denn eine nicht den Normen der Mehrheitsgesellschaft entsprechende Sexualität wird so als Symptom psychischer Krankheit lesbar und nicht als Metapher für einen scheiternden Versuch der Selbstbefreiung. So bleiben die emanzipativen Möglichkeiten des weiblichen Schreibens über grenzüberschreitende Sexualität in der Ausführung dieses Romans leider hinter der guten Idee zurück.

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