Verbraucherschützer über Europawahl: „Die EU demokratisieren“

Die Vertiefung der Europäischen Union schreitet voran. Einen demokratischen Ausgleich gibt es nicht, beklagt Thilo Bode.

Eine Gruppe trägt eine große EU-Flagge

Aber ist die EU nicht manchmal auch besser als ihr Ruf? Foto: dpa

taz: Herr Bode, was wünschen Sie sich für das Geschehen in der Europäischen Union in den kommenden fünf Jahren?

Thilo Bode: Wir müssen darüber diskutieren, welches Europa wir wollen und wie die Kompetenzen zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU aufgeteilt sind. Mit dem Slogan zu werben: „Europa ist die Antwort“, ohne diese Fragen zu stellen, wie die SPD es macht, das reicht nicht.

Was wäre aus Ihrer Sicht die Antwort?

Europa muss das können, was die Nationalstaaten allein nicht mehr können. Das bedeutet, dass die EU vor allem in der Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Migrationspolitik, aber auch in der Konzernpolitik souverän handeln kann. Aber das sieht ganz schlecht aus, gerade in der Außenpolitik. Wir wissen, dass einige Nationalstaaten wie Frankreich ihre Souveränität niemals aufgeben werden.

Thilo Bode ist Internationaler Direktor der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch. Davor war der heute 72-Jährige Geschäftsführer bei Greenpeace.

Würde so eine Verlagerung von Kompetenzen die Bürger nicht noch weiter von zentralen politischen Entscheidungen entfernen?

Wenn wir Kompetenzen auf die EU verlagern, müssen wir die demokratischen Leerstellen, die auf der Ebene der Na­tio­nalstaaten entstehen, ausgleichen. Abgesehen davon besteht folgendes Problem: Die Integration oder die Vertiefung der EU schreitet ohnehin automatisch voran. Zum Beispiel durch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, der nationales Recht kippen kann, oder durch die internationalen Handelsverträge.

Dieser permanenten Vertiefung steht kein ausreichender demokratischer Ausgleich gegenüber. Deshalb findet eine zunehmende Entfremdung der Bürger von den EU-Institutionen statt. Die Wahlbeteiligung zum EU-Parlament ist bislang von Wahl zu Wahl gesunken.

Als die AfD auf der politischen Bühne erschienen ist, ist die Beteiligung bei vielen Wahlen gestiegen. Es ist kein Automatismus, dass sich die Leute nicht für die Europawahl interessieren.

Die Diskussion über den Rechtspopulismus hat die Debatte über Europa wieder belebt. Hinter dieser Debatte stehen zwei grundsätzliche politische Richtungen. Die eine will eine Vertiefung der EU in Richtung Bundesstaat. Die andere will eine EU, die einen föderalen Charakter besitzt und auf den Nationalstaaten beruht. Ich bin der Meinung, dass beide Ansichten in einer Demokratie von vorne herein legitim sind und dass sie diskutiert werden müssen. Diese Diskussion findet bisher im Verborgenen statt. Ich hoffe, dass sie ausbricht.

Muss man das Demokratiekonstrukt EU nicht erst mal aushalten und Stück für Stück demokratisieren?

Ja, wir müssen einerseits die EU demokratisieren. Ebenso müssen wir aber eine nicht demokratisch legitimierte Kompetenzverlagerung von den Mitgliedstaaten auf die EU unterbinden. Beides geschieht bisher nicht.

Was bedeutet das konkret?

Zwei Beispiele: Der Europäische Gerichtshof kassiert mit der Begründung, es behindere den Binnenmarkt, nationales Recht. Damit wird zum Beispiel der Verbraucherschutz geschleift. Die Handelsverträge der neuen Generation, die nicht nur Zollsenkungen erreichen, sondern auch Regulierungen im Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz angleichen wollen, greifen tief in die binnenstaatlichen politischen Entscheidungen ein.

Sowohl die Kompetenzverlagerungen durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs als auch die Entscheidungsprozesse bei der Anwendung der Handelsabkommen sind demokratisch nicht ausreichend legitimiert. Foodwatch, Campact und „Mehr Demokratie“ haben deshalb kürzlich Verfassungsbeschwerde gegen das Handelsabkommen der EU mit Singapur eingelegt.

Was ist das Besondere an diesem Abkommen?

Darin wird eine neue Hoheitsebene durch Ausschüsse etabliert, die völkerrechtlich bindende Entscheidungen treffen können. Das Europäische Parlament bleibt dabei außen vor. Zusätzlich muss bzw. darf so ein weitreichendes Abkommen nicht mehr von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden.

Ihr Thema, der Verbraucherschutz – welchen Stellenwert hat es in der EU?

Artikel 169 des Lissabon-Vertrags sagt, der Verbraucherschutz wird im Rahmen der Vollendung des Binnenmarkts verwirklicht. Das heißt, dass der Verbraucherschutz dem Binnenmarkt untergeordnet wird. Dazu ein konkretes Beispiel: die Lebensmittelampel, die vorne auf den Verpackungen die Nährstoffzusammensetzung der Produkte anzeigen soll. Es ist – unglaublich, aber wahr – verboten, dass Mitgliedsstaaten auf nationaler Ebene eine für alle Anbieter gesetzlich vorgeschriebene Ampel einführen.

Wie wird dieses Verbot begründet?

Diese nationale Maßnahme wird als Handelshemmnis eingestuft, obwohl sie keinen Anbieter diskriminiert und Konzerne ihre Verpackungen den nationalen Märkten anpassen können. Deshalb gibt es trotz großer Zustimmung der Verbraucher diese wichtige Lebensmittelkennzeichnung noch nicht. Verbraucherrechte sind nicht nur billige Telefonkosten, sondern auch Rechte, als Verbraucher seine Gesundheit zu schützen und Wahlfreiheit zu haben. Dem arbeitet der Binnenmarkt entgegen.

Aber ist die EU nicht manchmal auch besser als ihr Ruf?

Selbstverständlich, alles andere wäre ja schlimm. Die EU hat das sozial wichtige Entsendegesetz sowie die Datenschutzgrundverordnung beschlossen, sie brummt den Digitalkonzernen heftige Bußgelder auf und verklagt Deutschland wegen Verletzung der Nitrat-Richtlinie sowie wegen Verstöße gegen die EU-Luftreinhaltegesetzgebung. Die EU leidet aber wie alle internationalen Institutionen darunter: Wenn etwas gut ist, dann sind es die Mitgliedsstaaten, und wenn etwas schlecht ist, ist es die EU.

Dabei besteht die EU im Wesentlichen aus den Mitgliedstaaten. Die Kommission richtet sich nach dem, was die großen Mitgliedstaaten vorsingen. Aber das ändert nichts an dem Prozess, den ich beschrieben habe.

Handelsabkommen müssen nicht mehr von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden, wenn die Klagerechte für Konzerne, die umstrittenen Schiedsgericht, ausgelagert wurden. Ist das nicht ein Erfolg der Stopp TTIP/Stopp Ceta-Bewegung?

Der Schuss ging eher nach hinten los. Die Kommission hat die Abkommen in zwei Teilverträge aufgespalten, einen für die Klagerechte der Konzerne, der von den Mitgliedsstaaten ratifiziert werden muss und einen für die Handels-und Dienstleistungsliberalisierung, den die EU nunmehr ohne Zustimmung der Mitgliedsstaaten beschließen kann. Damit wollte die EU-Kommission verhindern, dass der Ratifizierungsprozess zu lange dauert.

Das europäisch-kanadische Abkommen Ceta muss ja in Deutschland und vielen anderen EU Staaten noch ratifiziert werden. Da die neuen, umfassenden Verträge über die Handels-und Dienstleistungsliberalisierung aber tief in die binnenstaatliche Politik eingreifen, ist das aus meiner Sicht kein Erfolg des großen Protestes gegen die Handelsverträge, sondern ein demokratieschädliches Nebenprodukt.

Müssen die Bürger mehr Einfluss auf die EU nehmen können?

Momentan findet eine versteckte Kompetenzverschiebung statt, gegen die die Bürger sich nicht wehren können. Für Unternehmen gibt es hingegen die Möglichkeit, zu klagen, wenn die vier Grundfreiheiten – Handelsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit und Niederlassungsfreiheit – nicht gewährleistet sind. Die Verbraucher haben aber keine Rechte. Es gibt auch keine verbindliche Sozialpolitik in der EU. Wir müssen also die EU demokratisieren.

Und wie?

Wir müssen pragmatisch vorgehen, denn eine Änderung der EU Verträge, die Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten erfordert, erscheint vorerst illusorisch. Erstens müssen wir transparent machen, wie der Ministerrat überhaupt arbeitet. Er ist eine Blackbox unter erheblichem Einfluss von Konzern-Interessen. Zweitens brauchen wir eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts für NGOs. Wir können uns gegenwärtig nicht effektiv europäisch organisieren. Das Gemeinnützigkeitsrecht ist das am wenigsten harmonisierte Recht in Europa.

Drittens brauchen wir Möglichkeiten der direkten Bürgerbeteiligung. Viertens brauchen wir ein Klagerecht, das uns Verbrauchern die Möglichkeit gibt, Mitgliedsstaaten zu verklagen, wenn sie Gesetze nicht vollziehen oder gegen sie verstoßen. Das geschieht haufenweise im Lebensmittelrecht. Fünftens brauchen wir ein Klagerecht, das uns die Möglichkeit gibt, Gesetze durch den Europäischen Gerichtshof auf Übereinstimmung mit dem EU Primärrecht überprüfen zu lassen.

Wählen Sie am Sonntag?

Natürlich. Die EU-Parlamentswahlen sind aus demokratietechnischer Sicht zwar nicht das Gelbe vom Ei. Denn das Europäische Parlament hat kein Gesetzesinitiativrecht, kann nicht den Kommissionspräsidenten wählen und wir können keine europäischen Partei-Listen wählen. Wir wählen Fraktionen, die alleine nichts zu sagen haben. Und die etwas zu sagen haben, die können wir nicht wählen. Aber das europäische Parlament ist eine wichtige Stimme in Europa und fällt wichtige Entscheidungen. Ich finde es essentiell, dass da gute Persönlichkeiten sitzen.

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