70 Jahre Grundgesetz: In guter Verfassung

Das Grundgesetz ist in den 70 Jahren seiner Existenz gut gealtert. Warum es immer noch hervorragende Dienste leistet und wo es sich verändert hat.

Eine Illustration zeigt mehrere Richter und den Bundestag

Und jetzt alle: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ Foto: Oliver Sperl

Es liegt eine gespannte Unsicherheit in der Luft. AfD, Trump, Brexit – die westlichen Demokratien werden fragil. Vielleicht deshalb findet zurzeit ein eigentlich langweiliges Jubiläum – 70 Jahre Grundgesetz – erstaunlich viel Aufmerksamkeit. Am Grundgesetz kann man sich festhalten. Verfassungspatriotismus ist plötzlich mehr als ein ziviles Gegenbild zum rechten Nationalismus.

Dabei lässt sich die Wirkung des Grundgesetzes nicht nur mit dem Text allein erklären. Noch wichtiger ist seine Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht und die Bereitschaft der Gesellschaft, die Karlsruher Urteile zu akzeptieren.

Das Grundgesetz besteht, grob gesagt, aus zwei Teilen. Die ersten 19 Artikel enthalten die Grundrechte der Bürger gegen den Staat. Die übrigen Artikel regeln das Binnenleben des Staates: das Verhältnis von Regierung und Parlament, die Rechte der Opposition, das Zusammenspiel von Bund und Ländern. Wie bei einer Verfassung üblich, können diese (auf Dauer angelegten) Regeln nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden.

Dabei sind beim Grundgesetz einige Fehler der Weimarer Verfassung vermieden worden. Es gibt keinen starken Reichspräsidenten, der die Macht an sich ziehen und mit Notverordnungen regieren kann. Dafür ist die Bundesregierung besonders stabil ausgestaltet.

Bundesverfassungsgericht ist beliebt

Sie kann nur gestürzt werden, wenn der Bundestag zugleich eine andere Regierung wählt (durch ein konstruktives Misstrauensvotum). Die Grundrechte verpflichten nicht mehr nur die Verwaltung, sondern auch den Gesetzgeber. Auch ein Verfassungsgericht wurde erst mit dem Grundgesetz eingeführt.

Eine Verfassung ist an vielen Punkten bewusst vage formuliert, vor allem im Grundrechtsteil. Sie gibt dem Gesetzgeber nur einen Rahmen vor und soll auch neue Entwicklungen erfassen. Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert dann aus dem Verfassungstext die jeweils geltenden Maßstäbe.

Das Bundesverfassungsgericht hat seine Aufgabe immer darin gesehen, einen offenen demokratischen Diskurs zu sichern. Es hat das Parlament gegen die Regierung gestärkt, die Opposition gegen die Mehrheitsfraktionen und die außerparlamentarischen Kräfte gegen die etablierte Politik.

Menschen haben „Achtungsanspruch“

Diese Karlsruher Machtkontrolle wird auch weithin akzeptiert. Das Bundesverfassungsgericht ist sogar eines der beliebtesten Staatsorgane, weit vor Regierung und Parlament. Das ist natürlich gut für die Integrationswirkung der Verfassung. Selbst die AfD beruft sich trotz aller System­opposition gern auf das Grundgesetz und das Verfassungsgericht.

Zugleich liegt in der deutschen Verfassungsfixierung allerdings auch eine Gefahr. In Deutschland war das scheinbar eherne Recht immer schon angesehener als der laute demokratische Streit. Fast mit Schadenfreude wird in der Bevölkerung deshalb quittiert, wenn die Verfassungsrichterinnen und -richter wieder einmal ein Gesetz beanstanden – auch wenn es dabei meist nur um Details geht.

Wer die freiheitliche Verfassung von innen aushöhlen will, wird also nicht unbedingt versuchen, das Grundgesetz abzuschaffen, sondern das Bundesverfassungsgericht unter seine Kontrolle zu bringen.

Viele Grundrechte dienen dazu, den offenen gesellschaftlichen Diskurs zu schützen. Die wichtigsten Elemente:

Menschenwürde (Artikel 1)

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieses Versprechen steht gleich in Artikel 1 des Grundgesetzes, als große Abkehr vom NS-Staat.

Der Mensch darf deshalb nicht zum „bloßen Objekt“ staatlichen Handelns gemacht werden. Er hat einen „Achtungsanspruch“, allein weil er ein Mensch ist. Das gilt auch bei Hilfsbedürftigkeit sowie am Lebensanfang und -ende.

Die Menschenwürde-Garantie ist das stärkste aller Grundrechte. Sie darf weder durch Gesetze eingeschränkt noch mit anderen Verfassungswerten abgewogen werden. Deshalb ist zum Beispiel Folter immer verboten, auch zur Rettung von Menschenleben.

Gleichheit (Artikel 3)

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, heißt es in Artikel 3. Dieser allgemeine Gleichheitssatz bedeutet laut Bundesverfassungsgericht, dass „wesentlich Gleiches“ gleich zu behandeln ist und „wesentlich Ungleiches“ ungleich. Ungleichbehandlungen sind gerechtfertigt, wenn dafür ein sachlicher Grund besteht. Es geht also um ein Verbot von Willkür.

Daneben enthält Artikel 3 auch spezielle Gleichheitssätze: Ausdrücklich verboten ist zum Beispiel die Benachteiligung wegen des Geschlechts, des Glaubens, der „Rasse“ und der politischen Anschauung. Seit 1994 ist hier auch die „Behinderung“ erwähnt. Die sexuelle Orientierung fehlt noch.

Für die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern hat der Staat seit 1994 sogar einen Verfassungsauftrag. Deshalb sind Frauenquoten zulässig.

Meinungs- und Versammlungsfreiheit (Artikel 5, 8)

Das Bundesverfassungsgericht hat die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit als „schlechthin konstituierend“ für einen freiheitlichen demokratischen Staat eingestuft. Vor allem diese drei Grundrechte sichern den offenen gesellschaftlichen Diskurs. Eingriffe sind auf gesetzlicher Grundlage zwar möglich, doch das Bundesverfassungsgericht kontrolliert hier besonders streng.

Geschützt sind jeweils Werturteile und Tatsachenbehauptungen. Lügen sind nicht geschützt. Presseorgane müssen zudem ihre Informanten nicht nennen.

Diese Grundrechte gelten auch für Extremisten. Auf die Pressefreiheit können sich Medien aller Qualität und Ausrichtung berufen.

Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat (Artikel 20)

Artikel 20 legt fest, welche Art von Staat die Bundesrepublik sein soll. Einzelheiten zur Gestaltung von Demokratie und Rechtsstaat finden sich dann in vielen anderen Artikeln des Grundgesetzes. Die Gestaltung des Sozialstaats ist dagegen weithin dem Gesetzgeber überlassen.

Ewigkeitsklausel (Artikel 79)

Auch das Grundgesetz kann geändert werden. Erforderlich ist eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Einige Bestimmungen sind davon aber ausgenommen. Dazu gehören die Garantie der Menschenwürde und die Festlegung der Bundesrepublik als Demokratie, Rechtsstaat, Bundesstaat und Sozialstaat. Eine andere Ausgestaltung der Demokratie, etwa durch Einführung von Volksentscheiden, ist aber durchaus möglich.

Diese sogenannte Ewigkeitsklausel kann laut Bundesverfassungsgericht nicht abgeschafft werden, auch nicht per Verfassungsänderung. Möglich ist aber laut Artikel 146 die Schaffung einer ganz neuen deutschen Verfassung. Dies wäre etwa erforderlich beim Beitritt Deutschlands zu einem europäischen Bundesstaat („Vereinigte Staaten von Europa“).

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Einiges hat sich in den vergangenen 70 Jahren aber durchaus am Grundgesetz geändert. Als das Grundgesetz 1949 geschaffen wurde, war Deutschland von den Alliierten besetzt, die Wehrmacht des NS-Staats war aufgelöst.

Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) bereitete jedoch ab 1950 die Gründung der Bundeswehr vor. Auch die West-Alliierten (USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich) verlangten wegen des Ost-West-Konflikts einen deutschen „Wehrbeitrag“. Allerdings protestierten große Teile der deutschen Bevölkerung gegen die geplante Wiederbewaffnung.

Zuerst sollte Deutschland gemeinsam mit Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) aufbauen. 1954 wurde das Grundgesetz entsprechend geändert. Die EVG scheiterte jedoch im französischen Parlament. Stattdessen trat Deutschland 1955 der Nato bei. Im Grundgesetz wurde nun Artikel 87a eingefügt, der Streitkräfte „zur Verteidigung“ erlaubte. Im Gegenzug beendeten die West-Alliierten die Besatzung.

Auch hatten die West-Alliierten in den 1960er Jahren noch Sonderrechte für Notstandsfälle. Durch die Notstandsgesetze gingen die Kompetenzen auf deutsche Stellen über. Im Verteidigungs- und Spannungsfall kann die Bundeswehr nun auch im Inland eingesetzt werden. Beim „inneren Notstand“ darf sie auch bewaffnete Aufständische bekämpfen.

Falls der Bundestag nicht mehr arbeitsfähig ist, soll ein 48-köpfiges Notparlament (Gemeinsamer Ausschuss) die Aufgaben übernehmen. Die Verfassungsänderung wurde 1968 mit den Stimmen der damaligen Großen Koalition beschlossen. Weitere Gesetze regeln zum Beispiel Arbeitspflichten im Notstandsfall.

Grundgesetz auch nach Wiedervereinigung geändert

Ab Mitte der 1960er Jahre demonstrierte die Außerparlamentarische Opposition gegen die Notstandsgesetze. Sie befürchtete die Unterdrückung von Streiks und den „Griff nach der Diktatur“. Justizminister Gustav Heinemann (SPD) prognostizierte damals: Nach Verabschiedung der Gesetze „spricht kein Mensch mehr davon“. So kam es auch.

Mit dem Ende der DDR traten die fünf ostdeutschen Bundesländer der Bundesrepublik bei. Die im Grundgesetz vorgesehene Möglichkeit, aus Anlass der Wiedervereinigung eine neue deutsche Verfassung zu beschließen, wurde nicht genutzt.

Stattdessen setzten Bundestag und Bundesrat 1991 eine Gemeinsame Verfassungskommission (GVK) ein. Aus deren Arbeit gingen dann aber nur wenige Grundgesetzänderungen hervor.

1992 wurde Artikel 23 zum Europa-Artikel des Grundgesetzes. Dort ist nun geregelt, wie Bundestag und Bundesrat an der EU-Integration mitwirken. 1994 wurden Umweltschutz und Tierschutz in Artikel 20a als neue Staatsziele benannt. Dies hat allerdings nur symbolischen Charakter.

Flüchtlinge erhalten aufgrund von EU-Recht Asyl

„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es seit 1949 im Grundgesetz. Doch 1993 wurde das Grundrecht unter dem Eindruck rassistischer Krawalle in Rostock und Hoyerswerda weitgehend abgeschafft. Der Satz wurde in einen neuen Artikel 16a verschoben und durch weitere Absätze entwertet. So kann sich niemand auf das Grundrecht berufen, der über einen „sicheren Drittstaat“ einreist.

Dass viele Flüchtlinge dennoch in Deutschland Asyl erhalten, beruht auf dem inzwischen entstandenen EU-Asylrecht. Für das Asylverfahren ist zwar in der Regel ein Staat an den EU-Außengrenzen zuständig. Es gibt aber viele Gründe, warum die Zuständigkeit dann doch auf Deutschland übergeht.

1949 wollten die Alliierten einen mächtigen Zentralstaat verhindern und haben deshalb eine starke Stellung der Bundesländer durchgesetzt. Im Lauf der Jahrzehnte wurde der Bund aber vor allem in der Gesetzgebung immer wichtiger.

Mit der Föderalismusreform wurden 2006 dann Gesetzgebungszuständigkeiten – etwa für Strafvollzug und Versammlungsrecht – auf die Länder zurückverlagert. Im Gegenzug wurden die Vetorechte des Bundesrats bei Bundesgesetzen reduziert.

Immer wieder Änderungen an Zuständigkeiten

Im Verhältnis von Bund und Ländern wird ständig mit Grundgesetzänderungen nachjustiert. Anfang 2019 wurde der Digitalpakt umgesetzt, der dem Bund die Finanzierung von Computern in Schulen erlaubt, obwohl die Länder für Schulpolitik zuständig sind.

Der Staat darf in die meisten Grundrechte durch Gesetz eingreifen. Allerdings muss er dabei das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beachten. Wenn der Staat mehr verlangt, als für seine Zwecke nötig oder angemessen wäre, kann das Bundesverfassungsgericht das Gesetz beanstanden. Das Parlament muss dann nacharbeiten. Meist genügt die Entschärfung von Details.

Mitunter bietet das Grundgesetz eine überraschende Lektüre: Obwohl das Prinzip der Verhältnismäßigkeit eines der wichtigsten Elemente des deutschen Verfassungsrechts ist, steht es nicht darin.

Der Gedanke stammt ursprünglich aus dem preußischen Polizeirecht. Das Bundesverfassungsgericht wendet ihn seit 1958 regelmäßig bei der Grundrechtsprüfung an. Konkret besteht die Verhältnismäßigkeitsprüfung aus drei Schritten.

Erstens: Ist das Gesetz geeignet, sein Ziel zu erreichen? Zweitens: Ist der Eingriff in Grundrechte erforderlich oder gibt es mildere Mittel? Drittens: Ist der Eingriff in Grundrechte angemessen, um den Gesetzeszweck zu bewirken und wird hier zumutbar die Freiheit beschränkt? Der Schwerpunkt der Prüfung liegt auf dem dritten Schritt.

Datenschutz kam erst später dazu

Der Datenschutz war 1949, als das Grundgesetz entstand, noch kein Thema. Allerdings prüft das Bundesverfassungsgericht seit dem Volkszählungsurteil 1983 das „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“ – das nicht im Grundgesetz steht. Grundlage hierfür war das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, aus dem das Bundesverfassungsgericht bereits mehrere spezielle Gewährleistungen abgeleitet hat, etwa das Recht auf Privatsphäre, das Recht auf das eigene Bild oder das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung besagt, dass personenbezogene Daten nur auf gesetzlicher Grundlage erhoben, gespeichert, verwendet und weitergegeben werden dürfen.

2008 entwickelte das Bundesverfassungsgericht ein deutlich strengeres „Computer-Grundrecht“. Heimliche Eingriffe in informationstechnische Systeme sind nur zulässig, bei Anhaltspunkten einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut.

Bundeswehr im Ausland

Jahrzehntelang herrschte in Deutschland die Ansicht, die Bundeswehr dürfe nur innerhalb des Nato-Gebietes eingesetzt werden. 1994 stellte das Bundesverfassungsgericht dann aber fest, dass auch Einsätze „out of area“ möglich sind, wenn die Bundeswehr auf Grundlage eines UN-Mandats oder im Rahmen der Nato handelt.

Um die politische Akzeptanz dafür zu sichern, erfand das Bundesverfassungsgericht zugleich einen Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze. Der Bundestag muss seitdem grundsätzlich zustimmen, bevor Soldaten der Bundeswehr im Ausland eingesetzt werden.

Das Bundesverfassungsgericht lehnt es aber ab, zu prüfen, ob ein Auslandseinsatz dem Grundgesetz und dem Völkerrecht entspricht. Für solche Klagen gebe es im Grundgesetz keine Regelung – und die Karlsruher Richter wollen auch keine erfinden.

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