Auf dem Rummel in Neukölln: Wo Trinken auch nicht hilft

Maientage in Neukölln: Unser Autor kämpft sich furchtlos durch die Fress- und Schießbuden. Bis Sonntag kann man es ihm gleichtun.

Mittwoch ist Familientag auf den Maientagen in Neukölln Foto: André Wunstorf

Prolog

Der im Norden Neuköllns gelegene Volkspark Hasenheide ist ein Eldorado für Freizeitläufer. Tag für Tag geht es bei Wind und Wetter im Kreis herum, für die einen im und für die anderen gegen den Uhrzeigersinn. Wir älteren Jogger grüßen einander bei jeder Begegnung wie die Brummifahrer – eine Geste der Solidarität und des stillen Triumphs der Überlebenden.

Doch kaum sprießt im April das Grün, werden im autofreien Park Schilder aufgehängt: „Schritt fahren! Spielende Kinder!“ Eine Woche lang brummen Sattelschlepper mit schwerem Gerät herbei und verheeren den jungen Rasen. Sie errichten die „Neuköllner Maientage“, einen dreiwöchigen Rummel mitten in der Hasenheide. Das Vorkommando reitet relativ rücksichtslos ein, denn spaßbefreite Asketen wie die Läufer zählen kaum zur Klientel. Und wer keine Chips für den Autoscooter kauft, der kann auch weg.

Damit will ich keinesfalls sagen, dass Schausteller schlechte Menschen wären, aber ihr Handeln lässt sie oft so wirken. Der vorletzte Samstag der diesjährigen Maientage ist kühl und nass. So einen unwirtlichen Abend auf dem Rummelplatz zu verbringen hat etwas von Wintergrillen. Eine ironische Aktion, deren Gewinn sich in ebendieser Ironie auch schon erschöpft.

Vier Hauptgruppen mache ich aus: Familien mit kleinen Kindern, Pärchen, Gruppen junger Leute und schließlich ein paar ältere Neuköllner. Die sitzen im „Elchgarten“ solo unter „Löwenbräu“-Schirmen und mustern das einzige Paar, das vor der Festbühne im Regen schwoft. Auf der Bühne spielen die Dancin’ Fools die Hits der 1980er, 70er und 60er Jahre. Das sind die Momente, da selbst das Trinken nicht mehr hilft. Wie alleine an Weihnachten merkt man auch allein auf dem Rummel erst so richtig, wie einsam man ist.

Eine erste Sichtung der Angebote ergibt: Fressbuden, Trinkbuden. Fahrgeschäfte, die Wildwasserbahn „Atlantis“. Schieß- und Losbuden. Bogenschießen, Dosenwerfen. „Wer will, wer kann, wer darf, wer traut sich?!“ Eine innere Schnellprüfung ergibt: viermal Fehlanzeige. Aber „Fuzzy’s Lachsaloon“ klingt gut, da geh ich später bestimmt noch rein.

Selbstversuch eins

Nervenzerfetzend langsam fährt unsere Gondel die erste Steigung der „Wilden Maus“ hoch. Klack – klack – klack. So klingt der Countdown der Angst, ein Geräusch wie das Vorspannen des Hahns der Glock 17, die dem Personenschützer eines Ex-Bundespräsidenten hier erst neulich in der Schlange vorm Zuckerwattestand entwendet wurde. Eine Achtjährige im Hidschab drückt beruhigend meine schweißnasse Hand. Nirgendwo sonst spürt man so deutlich wie auf den Maientagen: Im Angesicht der Todesgefahr sind wir alle gleich …

So hätte das womöglich der Ex-Spiegel-Kollege Relotius geschrieben, der allerdings die zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat, viele seiner Geschichten schlicht erfunden zu haben. Aber Relotius hat von der taz nicht den begehrten Zuschlag für diesen Bericht erhalten. Ich hab. Und ich bin nun mal ehrlich: Diese ganzen Menschenschleudern muss ich auslassen, denn oft lässt die Schwindelfreiheit mit den Jahren nach. In so einen Kotzegenerator brauche ich mich heute gar nicht mehr zu setzen. Eher geht der Spesenhunni von der Redaktion für zehn halbe Meter Bratwurst drauf.

Zuckerwatte ist Ansichtssache Foto: André Wunstorf

Für die Geisterbahn aber nicht, denn für den Kenner der U8 bleibt das Original unschlagbar, sosehr auch der „Panic Room“ mit einem rätselhaften Schild lockt: Schwangeren, Herz-Kreislauf-Kranken und geistig Behinderten ist „der Eintritt untersagt“, für Betrunkene hingegen „der Zutritt verboten“. Die Erschrecker sehen schlimm aus. Sie stehen gerade zum Rauchen vor der Tür. Ist ja heute wenig los.

Selbstversuch zwei

Dieses Mal gleich, ohne Relotius zu bemühen: Schießen mit Gleitsichtbrille. Mit dem Luftgewehr geht es auf eine dünne Strippe, an der ein Stofftier hängt, und nicht – wie es der Brandenburger Jäger gerne zu tun scheint – mit der Bazooka auf ein diffuses Rascheln im Maisfeld, dessen Herkunft sich erst nach dem letalen Beschuss klärt.

Die Strippenmethode ist die Königsdisziplin. In den anderen Buden ballert man nur auf weiße Hülsen, an denen jeweils eine Plastikrose befestigt ist. „Gebt mir tausend Schuss und ich treff tausend Mal“, sagt ein junger Mann hinter mir, der dann aber gar nicht schießt. Ich erwische immerhin den Rand der Strippe. Der Trostpreis ist ein Stoffscheißhaufen in Herzform.

Ich hab die Maientage anders in Erinnerung. Es roch verheißungsvoll nach Pisse, Sand und Bier. Die Sonne brannte, betrunkene Besucher schoben einander durch die vollen Gassen, und am Abend beulte man sich wie einst bei Bolle. Der grobe Spaß für grobe Städter passte da noch zu Neukölln mit seinem schon im neunzehnten Jahrhundert erworbenen Ruf als Hort der Armut, Kriminalität und billigen Vergnügungen.

Selbstversuch drei

Haut den Lukas, ebenfalls mit Gleitsichtbrille. Den suche ich jetzt, da hau ich drauf, dann wird mir warm – ich schwör. Aber den Lukas gibt es nicht mehr. Stattdessen nur noch eine Boxbirne, vor der eine Horde junger Männer steht. Bamm! Bamm!! Bamm!!! Ich ziehe mich heimlich zurück, ehe sie mich entdecken. Mein Alter. Mein Rücken. Meine Würde. Ähnlich wie der Fußball dient auch das Volksfest der sozial verträglichen Einhegung archaischer Triebe, und wie beim Fußball klappt das bei den Akteuren/Schaustellern meist besser als beim Publikum.

Doch nun dampft das Wetter die Triebe auf ein Achselzucken ein. Wir sind Teilnehmer einer Beerdigung mit integriertem Entenangeln. Ein Rummel ohne Rummel bleibt, gleich einer Ballerina ohne Beine, ein reichlich leeres Versprechen.

Selbstversuch vier

Längst friere ich an Körper, Geist und Seele. Auch das Feuerwerk um 22 Uhr kann mich nicht erwärmen. Da hilft tatsächlich nur noch „Fuzzy’s Lachsaloon“. Für vier Euro – jeder Furz kostet hier ein Schweinegeld, das die taz besser angelegt hätte, um vielleicht nochmal nachzuprüfen, ob die Dübel fürs neue Haus auch wirklich feuerfest sind – suche ich Trost.

Der Saloon ist voller Hindernisse. Alles kippelt, manchmal kommt man nicht richtig durch oder voran. Das mag der Witz sein, nervt aber nur. Und wie sollen das die Kinder schaffen? Im zweiten Stock hängen zwei Spiegel. Doch was ist bitte daran lustig, dass jemand hässlich, krank und traurig aussieht? Am Ende wartet eine lange Rutsche, die nicht rutscht, so dass ich wie ein Käfer herauskrabbeln muss. Meine Würde, mein Rücken, mein Alter. „Entschuldigung, die Rutsche rutscht nicht“, teile ich dem Kassierer mit. „Feuchtigkeit“, antwortet er. Natürlich. Jetzt muss ich herzlich lachen. Das tut gut. „Fuzzy’s Lachsaloon“ kann ich wärmstens empfehlen.

Epilog

Am kommenden Sonntag ist alles vorbei. Beim Abbau wird es noch einmal ernst werden. Wie die Hasen bei der Treibjagd werden die Jogger beiseitespringen, denn so brutal, wie die Spielleute in den Park hineingekachelt sind, so brachial kacheln sie heraus. Vielleicht können sie ja auch nur die Warnschilder nicht lesen. Weitere drei Tage geht das so, dann wird es still und der Park gehört endlich wieder uns: den Joggern, Dealern, Müttern, Kindern, Trinkern, Slacklinern und Gassigehern.

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