Nicht von Pappe

Es ist Common Sense: Plastik zerstört die Natur. Viele Verbraucher suchen deshalb nach nachhaltigen Alternativen und landen bei Papier und Pappe. Doch deren Klimabilanz ist auch nicht viel besser

Papier, Pappe und Karton sind die am häufigsten eingesetzten Verpackungsmaterialien. In Papierfabriken wie in Hagen werden sie produziert Foto: Jonas Güttler/dpa/picture alliance

Von Heike Holdinghausen

So viel Einigkeit herrscht selten bei einem Umweltthema: Plastik ist schlecht und muss weg, am besten schnell und gänzlich. Über 180 Staaten haben sich auf neue Regeln für den Handel mit Plastikmüll verständigt. Er fällt jetzt unter das Baseler Abkommen – und gilt damit quasi als Sondermüll. Von der Karibik bis Brüssel gelten verschiedenste Verbote für Plastikprodukte, und in Deutschland lädt Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) zum runden Tisch gegen Plastikverpackungen.

Aldi Nord verabschiedete sich im Februar auf Instagram von der blau-weißen „Kult-Tüte“ aus Kunststoff – und informierte, künftig spare man dadurch jährlich rund 1.200 Tonnen Plastik ein. Die Rewe Group, Dachkonzern etwa von Rewe, Penny und den Toom-Baumärkten, teilt mit, sie habe durch verschiedene Maßnahmen im Jahr 2018 insgesamt 7.000 Tonnen Plastik eingespart.

Zwar spiegeln das die amtlichen Statistiken noch nicht wieder: Die jüngsten Zahlen des Umweltbundesamtes stammen von 2016 und zeigen bis dato einen Anstieg aller Verpackungsmaterialien, sei es Pappe, Karton, Papier, Kunststoff, Glas oder Metall. Die Industrievereinigung Kunststoffverpackungen rechnete für 2018 mit einem ordentlichen Wachstum. Die Kunststoffverpackungsindustrie profitiere von der guten Konjunktur, kommentierte die Wirtschaftsexpertin des Industrieverbandes Inga Kelkenberg die Zahlen, negative Berichterstattungen zeigten derzeit keine Auswirkungen.

Allerdings ist fraglich, ob das so bleibt. Schließlich hat die Substitution von Plastik erst vor Kurzem richtig begonnen. Viele Unternehmen arbeiten an neuen Produkten und Verpackungen. Häufig im Zentrum der Bemühungen: Papier. Die Bertelsmann-Tochter Topac, bisher spezialisiert auf Kartonverpackungen etwa für CDs oder Parfüms, entwickelt eine neuartige Verpackung für Fleisch. „Wir ersetzen Plastikschalen für Steaks durch Pappschalen, die wir mit einer dünnen Kunststofffolie überziehen“, erklärt Sven Deutschmann, Geschäftsführer von Topac. Der Fleischkarton besteht aus FSC-zertifiziertem skandinavischem Holz. Darauf wird eine dünne Kunststoffschicht appliziert, ohne die der Karton durchweicht. Altpapier lasse sich hier nicht einsetzen, zu hoch seien die hygienischen Ansprüche im Lebensmittelbereich, so Deutschmann. Zunächst peilt die Firma aus Gütersloh ein Marktvolumen von 10 Millionen dieser „nachhaltigen, recycelbaren Verpackungen aus nachwachsenden Rohstoffen“ – so Deutschmann – jährlich an. Anderes Beispiel: 13 Unternehmen, die ökologische und faire Kleidung produzieren und vor allem im Versandhandel vertreiben, haben sich zusammengeschlossen, um ihre nachhaltige Kleidung auch nachhaltig zu verpacken. Darunter namhafte Unternehmen wie Hess Natur oder Armed Angels. „Wir machen schöne und hochwertige Kleidung“, sagt die Designerin Claudia Lanius, dementsprechend müsse sie auch verschickt werden. Ergebnis der Arbeitstreffen: eine eigens entwickelte „Pergamin-Tüte“, die aus Frischfasern aus FSC-zertifiziertem Holz besteht. Erste Erfahrungen damit seien vielversprechend, so Lanius. Auch große Arbeit­geber wie Siemens, die Allianz oder Vodafone wollen den Plastikverbrauch ihrer Mitarbeiter eindämmen – und ersetzen Trinkgefäße oder Geschirr in Kantinen und Teeküchen zum Teil durch Papiervarianten.

Dabei sind Papier, Pappe und Karton schon jetzt die mit Abstand am häufigsten eingesetzten Verpackungsmaterialien. Der wachsende Online­handel beschert auch der Papierbranche ein imposantes Wachstum. Im Versandhandel hat der Verbrauch von Papierverpackungen zwischen 1996 und 2005 laut Umweltbundesamt (UBA) um 540 Prozent zu genommen und lag 2016 bei rund 8 Millionen Tonnen. Laut Berechnungen von Angelika Krumm, Papierexpertin der Umweltorganisation Robin Wood, liegt der Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland derzeit bei 119 Kilogramm im Jahr – weltweit Platz drei hinter den USA und Finnland.

Herstellung

Insgesamt 22,7 Millionen Tonnen Papier, Pappe und Karton haben die in Deutschland ansässigen Papierfabriken 2018 laut dem Bundesverband Sekundärrohstoffe (bvse) hergestellt. Der Anteil an Altpapier darin betrug 75 Prozent. Gegenüber dem Vorjahr wurden weniger „grafische Papiere“ hergestellt, also solche, die man beschreiben oder bedrucken kann. Ein Plus gab es hingegen bei Verpackungspapieren und -kartons. Über die Hälfte aller hergestellten Papiere waren 2018 Verpackungsmaterial.

Importverbot Chinas

Die Altpapierbranche treibt derzeit vor allem das Importverbot in China um. Das Land hat nicht nur einen Einfuhrstopp für Plastikmüll erlassen, sondern auch für Altpapier. Bis 2017 hatte China rund 30 Millionen Tonnen Altpapier pro Jahr importiert. Inzwischen sind es nur noch 7 Millionen. Deutschland exportiert seitdem vermehrt in chinesische Anrainerstaaten, die ihre Papierproduktion angekurbelt haben. (hol)

Sich ein detailliertes Bild davon zu machen, wie weit Rewe, Edeka und Co etwa die gescholtenen Plastiktüten durch Papiertüten ersetzen, ist nicht leicht. Denn anders als mit den offen kommunizierten Zahlen zum eingesparten Plastik halten sich die Konzerne hier mit Mengenangaben zurück: Edeka sei genossenschaftlich organisiert und werde von rund 3.800 selbstständigen Kaufleuten getragen, die ihre Märkte eigenständig führten. Daher könne man keine pauschalen Angaben zum Verbrauch an Papiertüten machen, teilt die Hamburger Edeka-Zentrale mit. Und die Rewe Group aus Köln antwortet auf die Frage, wie viele Tonnen Papier sie im Jahr für Verpackungen verbrauche: „Dazu machen wir keine öffentlichen Angaben.“

Warum nicht? In der aufgeheizten Plastik-Diskussion gilt Papier derzeit vielen noch als „nachhaltige“ Alternative; Holz ist ein nachwachsender Rohstoff, der Altpapieranteil des in Deutschland produzierten Papiers ist mit einem Anteil von 75 Prozent hoch. „Den Papierverbrauch als kritisches Thema zu kommunizieren ist unheimlich zäh“, sagt Peter Gerhardt vom Verein Denkhaus Bremen, „dabei hat der hohe Papierverbrauch viele negative Folgen“.

Almut Reichart, Papierexpertin des UBA, rechnet vor, eine Tonne Papier aus Frischfasern herzustellen koste ungefähr so viel Energie wie die Produktion einer Tonne Primärstahl. Holz besteht nur zur Hälfte aus Fasern. Um sie vom Lignin, dem anderen Hauptbestandteil, zu trennen, wird es aufwendig verarbeitet, unter anderem rund vier Stunden bei 170 Grad gekocht. Danach besteht die Fasernmasse zu 99 Prozent aus Wasser und muss gewaschen, gebleicht, gepresst und getrocknet werden. Entsprechend sei die Produktion von Papier aus Holz nicht nur sehr energieintensiv, sondern verbrauche auch große Mengen Wasser, so Reichart. „Das Abwasser ist mit Nährstoffen und natürlichen Holzinhaltsstoffen versetzt, die schwer abbaubar sind.“ Darum müsse das Abwasser aus Papierfabriken aufwendig aufbereitet werden, so Reichart.

Zwar wird in der Papierproduktion in Deutschland viel Altpapier eingesetzt (siehe Kasten), doch wird auch viel Papier im- und exportiert, vor allem aus Skandinavien. Die Papierfabriken dort nutzen vor allem Primärfasern aus Holz. „Im tatsächlich verbrauchten Papier ist weniger Altpapier enthalten“, sagt Reichart, und: „Jedes Altpapier war früher mal Primärpapier.“ Von den rund 76 Millionen Kubikmeter Holz, die jährlich in Deutschland geerntet werden, gehen 10 Millionen in die Papierproduktion – das ist ein beträchtlicher Anteil. Dabei wachsen die Ansprüche an die Forste: Holz als nachwachsender Rohstoff gilt etwa als nachhaltige Energiequelle oder als ökologischer Baustoff. Zudem fordern Umweltschützer, mehr Forste für den Klima- und Artenschutz in Wald umzuwandeln und nur noch extensiv oder gar nicht mehr zu nutzen.

„Eine Fichte etwa für die Papierproduktion braucht rund 70 Jahre, bis sie nachwächst“, sagt Evelyn Schönheit, Umweltwissenschaftlerin vom „Forum Ökologie & Papier“, „CO2 muss aber heute gespeichert werden“. Es sei Wahnsinn, Holz für Einwegprodukte einzusetzen. Der Klimaschutz mache es vielmehr nötig, Wälder zu erhalten. „Außerdem sind über Papier viele Mythen in Umlauf“, sagt Schönheit. So bedeute etwa eine „braune Tüte“ nicht unbedingt, dass viel Altpapier im Spiel sei. Gerade die dicken, schweren, braunen Tüten, die auch viele Biosupermärkte ausgäben, hätten eine sehr schlechte Ökobilanz, wenn sie aus Primärfasern bestünden.

„Eine Fichte für die Papier-produktion braucht rund 70 Jahre, bis sie nachwächst“

Evelyn Schönheit, Umweltwissenschaftlerin

Kopfzerbrechen bereitet den Experten zudem, dass sich die Zusammensetzung des Altpapiers in der Tonne ändert. Zeitungen und Büropapiere aus hochwertigen Fasern nehmen ab, Verpackungen nehmen zu. „Das führt zu sinkenden Qualitäten des Recyclingpapiers“, sagt UBA-Expertin Reichart, „deshalb wird die Aufbereitung des Altpapiers schwieriger und es fallen mehr Reststoffe an“. Es sei wichtig, künftig stärker darauf zu achten, dass Papierprodukte recycelbar sind, etwa in dem geeignete Klebstoffe oder Druckfarben verwendet werden und auf Verbundmaterialien wie mit Kunststoffen beschichtete Pappe vermieden wird.

„Einweg ist selten ein guter Weg“, sagt auch Evelyn Schönheit, „Recyclingfähigkeit oder nachwachsende Rohstoffe hin oder her“. Es sei entscheidend, in Mehrwegsysteme etwa mit langlebigen Versandtaschen oder -boxen aus Recycling-Kunststoff zu investieren, gerade auch im Verpackungsbereich und im Versandhandel. Wie das gehen könnte, zeigen etwa das finnische Unternehmen RePack, das ein System von Mehrweg-Versandtaschen anbietet, oder der mittelständische Versandhändler Memo aus dem unterfränkischen Greußenheim. Er versendet auf Wunsch seine Artikel in einer Mehrweg-Kiste, der „Memo-Box“, die Kunden auch für ihre Retouren nutzen können. Die Porto-Kosten seien etwas höher, sagt Unternehmenssprecherin Claudia Silber, „aber das ist es uns wert“.

Auch im Kantinen- und Teeküchenbereich von Vodafone, Siemens und Allianz gibt es wirklich nachhaltige Ansätze. So bietet Vodafone in der neuen Firmenzentrale spezielle Wasserarmaturen in den Teeküchen an, die stilles, sprudelndes und kochendes Wasser liefern. „Somit werden keine Getränkekisten oder Einweg-Kunststoff­flaschen mehr benötigt“, so das Unternehmen. Und dem Ökomode-Versandhändler Maas-Natur dauerte die Abstimmung mit seinen Kollegen über die neue Papiertüte zu lange. Wer bei den Ostwestfalen Kleidung bestellt, bekommt sie jetzt unverpackt im Karton.