„Das geht alle Frauen etwas an“

Sie ist Mitgründerin des muslimisch-feministischen Blogs „Reçel“ und Musikerin. Rümeysa Çamdereli im Gespräch über muslimischen Feminismus in der Türkei

„Meinen Auftritt als Musikerin empfinden konservative Männer als Bedrohung“, sagt Çamdereli Foto: privat

Interview Rabia Çetin

Die muslimisch-feministische Aktivistin und Musikerin Rümeysa Çamdereli gehört zu den Gründerinnen des Blogs Reçel (dt.: Marmelade), auf dem regierungskritische muslimische Frauen schreiben. Die 30-Jährige studierte IT-Ingenieurswesen an der Boğaziçi-Universität und macht derzeit ihren Master an der Universität Istanbul im Fachbereich Frauenforschung. Ein Gespräch über die muslimisch-feministische Bewegung in der Türkei.

taz.gazete: Frau Çamdereli, wie wurden Sie zur Feministin?

Rümeysa Çamdereli: Zuerst definierte ich mich als Muslima. Der Auslöser war für mich, die Kopftuchfrage als Frauenfrage zu behandeln. Als ich an die Universität ging, musste ich mein Kopftuch ablegen. Das hat mich sehr beschäftigt. Damals begann ich mich mit meinen feministischen Kommilitoninnen auszutauschen. Vorher war ich mir der Diskriminierungen, die ich aufgrund meiner Identität als Frau erlebte, gar nicht richtig bewusst. Dann fing ich an, mich feministisch zu organisieren und an den Frauenprotesten am 25. November und am 8. März teilzunehmen.

Diskutieren muslimisch-feministische Frauen nach wie vor über die Kopftuchfrage? Es gibt Leute, die finden Kopftuchdebatten patriarchalisch …

Auch ich denke, diese Diskussionen gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Dieses Argument gründet sich auf zwei Vorstellungen, erstens: „Frauen verhüllen sich, um sich vor Männern zu schützen.“ Und zweitens: „Frauen tragen das Kopftuch nicht aus eigenem Wunsch, sie werden dazu gezwungen.“ Beides trifft auf meinen Fall nicht zu und dank Plattformen wie dem Reçel-Blog können wir jetzt auch die Geschichten vieler anderer verhüllter Frauen hören. Außerdem ist eine muslimische Frau auch nicht gezwungen, ein Kopftuch zu tragen. Es gibt auch Frauen unter uns, die sich als Muslima definieren und kein Kopftuch tragen. Wir versuchen, den muslimischen Feminismus nicht nur auf das Kopftuch zu begrenzen.

Aus welchem Bedürfnis heraus entstand das Blog Reçel, auf dem oppositionelle muslimische Frauen schreiben?

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Wir hatten das Gefühl, dass wir es nicht richtig schafften, unsere alltäglichen Debatten zu teilen und sichtbar zu machen, was bei uns auf der Tagesordnung stand. Wir dachten, wenn wir unsere eigene Geschichte erzählen, finden sich muslimische Frauen darin wieder. Mit der Zeit hat die Plattform sich dann von selbst vergrößert. Reçel erreicht ein bedeutendes Publikum. Ab einem gewissen Punkt entwickelte das Blog seinen eigenen Stil. Es gab gemeinsame Veranstaltungen, wo wir Frauen trafen, die uns schrieben. Bei solchen Treffen sagten manche: „Wir sind ja doch nicht allein.“ Wir haben versucht, genau diese Einsamkeit zu überwinden. Die Texte auf dem Blog haben Frauen auch Mut gemacht.

Wie sehen denn konservative Kreise den Feminismus?

Der konservative Flügel in der Türkei kennt den Feminismus noch nicht. Deshalb dauert es noch, bis die Existenz muslimischer Feministinnen in der konservativen Community ins Gespräch kommt und Akzeptanz erfährt. Die Community akzeptiert Unterschiede nicht so leicht.

Wie wirkt sich das alles auf Ihre Identität als Musikerin aus? Wie reagieren die Leute, wenn Sie als Musikerin mit Kopftuch auftreten und E-Gitarre spielen?

Die Bühne sorgt für eine Sichtbarkeit, die nicht zu den Stereotypen für Frauen im privaten und öffentlichen Raum passt. Von Frauen wird erwartet, dass sie sich innerhalb bestimmter Grenzen bewegen, den Machtbereich von Männern nicht bedrohen und möglichst wenig sichtbar sind. Dass ich als Musikerin auftrete, wird insofern von konservativen Männern als Bedrohung empfunden. Die harschen Reaktionen konservativer Frauen lese ich dagegen zum großen Teil als Mangel an Selbstverwirklichung. „Das kannst du nicht machen“, sagen sie und: „Leg das Kopftuch ab, wenn du so etwas machst.“ Aber die Proteste konservativer Frauen stören mich nicht so sehr. Denn sie reagieren so, weil sie unterdrückt und eingeengt sind. Säkulare Kreise dagegen reagierten gleich sehr positiv mit Äußerungen wie: „Das ist unglaublich, was du da machst.“ Darüber habe ich mich anfangs riesig gefreut. Ich dachte, ich bin marginal. Später wurde mir aber klar, dass völlig normal ist, was ich tue.

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An welchem Punkt steht die muslimisch-feministische Frauenbewegung in der Türkei im Augenblick?

In letzter Zeit setzt sich die muslimische Frauenbewegung mit dem Feminismus auseinander. Das ist ein Wandel ohnegleichen. In der muslimischen Frauenbewegung der Neunziger stand generell die Kopftuchfrage im Mittelpunkt. Damals führten Frauen wie Konca Kuriş, Hidayet Tuksal oder Sibel Eraslan wichtige Debatten. Die Diskussionen schafften es aber leider nicht sehr in die Breite, das war auch den Verboten geschuldet. Nun entwickelt sich eine Bewegung, die offen für neue ideologische Diskussionen ist, auf Praktiken des Alltagslebens fokussiert und aktivistische Formen ins Auge fasst.

Hat die Regierung der vergangenen 15 bis 20 Jahre etwas mit diesem Wandel zu tun?

Aber sicher. Denn die Bewegung ist kritischer, seit die AKP an der Regierung ist. Auch der Kampf gegen das Kopftuchverbot war regierungskritisch. Die aktuelle muslimisch-feministische Bewegung engagiert sich aber auch gegen diverse Maßnahmen der Regierung. Wie es Aufgabe jeder zivilgesellschaftlichen Institution ist, die derzeitige Regierungspolitik zu kritisieren, so ist auch uns unsere Verantwortung für Kritik bewusst. Ich will nicht sagen, dass wir direkt Anti-AKP wären. Aber wir sind auch keine AKP-Anhängerinnen. Der Wandel, den die Regierung anstrebt, um die Gesellschaft konservativer zu machen, bedroht auch uns. Auch wir tun, was wir können, um uns gegen diese Transformation der Gesellschaft zu wehren.

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Welche Maßnahmen der AKP bedrohen muslimische Frauen?

Wir versuchen, nicht zu denen zu gehören, die die AKP „unsere verhüllten Schwestern“ nennt. Denn alles fängt damit an, nicht die Schwester eines Mannes zu sein. Feminismus erfordert ja auch, nicht irgendjemandes „Schwester“ zu sein. Gesetzentwürfe zur Erleichterung von Eheschließung mit Minderjährigen, Gesetzentwürfe zur Amnestierung solcher Handlungen – diese Vorlagen kamen nicht von der Regierung, sondern von der Opposition. Ich glaube, wenn es um Frauen geht, unterscheiden sie sich nicht wirklich. Das geht alle Frauen etwas an. Auch dass Kommissionen eingerichtet wurden, um die Scheidungsraten zu senken, Maßnahmen zum Schutz der Familie auch gegen das Wohl der Frauen, das ist unsere Sache – wie die aller Frauen in der Türkei. Wir haben das Gefühl, als feministische Frauen mit unserem Glauben eine Verantwortung für solche Themen zu haben.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe