Eine Seele von Mensch: „Mein Leben lang hart gearbeitet“

Ihre Änderungsschneiderei hat Kultstatus im Schöneberg Kiez. Nun schließt die 76-Jährige ihren Laden. Marica Grosinic geht zurück nach Kroatien.

Dde Schneiderin Marica Grosinic in ihrem Schöneberger Geschäft an der Nähmaschine sitzend

Weil die Schneiderin Marica Grosinic nach vielen Jahren ihr Geschäft in Schöneberg aufgibt, bringen Kunden Schokolade und Blumen vorbei – einfacher macht das den Abschied nicht Foto: Lia Darjes

taz: Frau Grosinic, in zwei Wochen schließen Sie Ihre Änderungsschneiderei. Wissen Ihre Kunden Bescheid?

Marica Grosinic: Die meisten sind inzwischen informiert. Ich habe ein Schild an die Tür gehängt, dass alle Sachen bis zum 26. April abgeholt werden müssen – wegen Geschäftsschließung.

Was passiert mit den Kleidungsstücken, die übrig bleiben?

Was noch gut ist, gebe ich dem Roten Kreuz. Den Rest schmeiße ich in den Müll.

wurde 1943 in Kroatien geboren. Die gelernte Textiltechnikerin kam 1971 nach Berlin, ihr Mann, ebenfalls Schneider, folgte fünf Jahre später. 1988 starb ihr Mann in Berlin an Krebs. Grosinic hat eine Tochter und zwei Enkelkinder, die 21 und 23 Jahre alt sind.

Wie reagieren die Kunden?

Sie sind traurig.

Und wie geht es Ihnen damit?

Ich bin auch traurig, manchmal sehr. (kämpft mit den Tränen) Aber ich freue mich auch, dass ich zurück nach Hause gehe.

Nach Hause, wo ist das?

Kroatien, Zagreb.

Wie lange haben Sie in Deutschland gelebt?

Ja, fast 50 Jahre! Ich bin 1971 alleine nach Berlin gekommen. Mein Mann ist fünf Jahre später mit einem Touristenvisum nachgekommen. Er war Schneider, wie ich. Unsere Tochter ist in Kroatien geblieben. Das war hart. Sehr hart. (wischt sich mit einem Taschentuch über die Augen)

Ihre Tochter war ein Jahr alt, als Sie nach Berlin gegangen sind. Warum haben Sie sie nicht mitgenommen?

Als ich nach Deutschland gegangen bin, habe ich nicht gedacht, dass ich so lange hier bleibe. Vielleicht fünf, sechs Jahre habe ich gedacht, dann gehe ich wieder zurück.

Wo war Ihre Tochter in dieser Zeit?

Bei meiner Schwester in Kroatien. Sie hatte drei kleine Kinder, ein bisschen älter als meine Tochter. Sie haben zusammengelebt wie Bruder und Schwester.

Und später, warum haben Sie das Kind da nicht nachgeholt?

Als meine Tochter zehn Jahre alt war, wollten wir, dass sie zu uns zieht. Aber sie wollte lieber in Kroatien bei der Familie meiner Schwester bleiben. Es ist schön da. In den Ferien haben wir sie oft gesehen. Sie hat uns in Berlin besucht oder wir sind hingefahren. Manchmal haben wir noch nachgefragt, aber sie hat gesagt: nach Deutschland gehe ich nicht. Niemals. Mein Mann und ich beschlossen dann, dass wir noch ein bisschen in Deutschland bleiben, und haben aber gleichzeitig angefangen, in Kroatien ein Einfamilienhaus zu bauen. Aber das hat gedauert – wir hatten ja nicht viel Geld. Dann ist mein Mann krank geworden und konnte nicht mehr arbeiten. Als er dann starb – er hatte Krebs –, musste ich alles alleine bezahlen. Das Haus und den Unterhalt für meine Tochter.

Wie konnten Sie sich das leisten?

Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet. Die DeTeWe…

„Mir ist aufgefallen, dass die Leute immer weniger Geld haben“

… die Deutschen Telephonwerke…

… die hatten 1971 Leute gesucht. Über die Arbeitsvermittlung war ich nach Berlin gekommen. Zuerst habe ich Telefone montiert, aber auch andere Arbeiten gemacht – alles am Fließband. Dann wurde die Abteilung geschlossen und ich habe wieder in meinem alten Beruf gearbeitet. Nähen habe ich immer geliebt. Später haben mein Mann und ich uns als Änderungsschneider selbstständig gemacht. In Kroatien hatte ich Textiltechnikerin gelernt und dort schon zehn Jahre in einer Fabrik gearbeitet. Erst hatten wir einen Laden in der Maaßenstraße in Schöneberg. Nach dem Tod meines Mannes bin ich dann zweimal mit dem Geschäft umgezogen. Den Laden hier in der Winterfeldtstraße 1 hatte ich 16 Jahre lang.

Waren Sie mal kurz davor, alles hinzuschmeißen?

Oh ja, oftmals. Die Zeit nach dem Tod meines Mannes war sehr schwierig. Dann hatte ich einen schweren Unfall, einen schlimmen Beinbruch. Ich bin lange an Krücken gegangen, jahrelang konnte ich nicht richtig laufen. Da habe ich gekämpft. Aber die Kunden haben mir Mut gemacht. Sie standen mit guten Ratschlägen zur Seite und haben mir auch mal finanziell geholfen. Ich habe viele gute Menschen aus unterschiedlichen Nationen kennen gelernt. Das hat mir Energie gegeben. Deshalb bin ich in Berlin geblieben.

Haben Sie das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen?

Ja! Wo gehöre ich hin?

Was sagt Ihnen Ihr Herz?

Beides. Kroatien ist mein Zuhause, aber ein Teil von mir gehört auch hierher – nach Berlin. Eigentlich ist das sogar der größere Teil: so viele Jahre, wie ich schon hier bin.

Sie sind 76. Warum hören Sie gerade jetzt auf?

Der Mietvertrag läuft aus. Ich hätte verlängern können, aber ich will nicht mehr.

Sollte die Miete für den Laden erhöht werden?

Ja, aber das wäre nicht viel gewesen. Einmal muss Schluss sein. Aber das tut weh! Die Kunden sind meine Familie.

Werden Sie in Zagreb in dem Haus leben, das Sie dort gebaut haben?

Ja, ich habe dort ein Schlafzimmer. Ich werde mit meiner Tochter, meinem Schwiegersohn und meinen zwei Enkelkindern zusammenleben. Meine Tochter drängelt schon lange, dass ich endlich kommen soll.

Wovon werden Sie leben?

Ich habe eine Rente, das ist zwar nicht so viel, aber ich lebe ja bei meiner Tochter. Ich bin kein Mensch, der Millionen braucht. (lacht) Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.

Hat Ihnen Ihre Tochter mal Vorwürfe gemacht, nach dem Motto: Du warst nicht für mich da?

Nein, überhaupt nicht. Sie ist ja heute auch schon fast 50 Jahre alt. Sie auch Textiltechnikerin wie ich. Aber es gibt keine Textilfabriken mehr. Alle schließen und wandern nach Asien ab.

Haben Sie Ihr Reiseticket nach Kroatien schon gekauft?

Nein! Bis Ende April muss ich den Laden auflösen, danach meine Wohnung im Wedding – immer langsam.

Wie oft waren Sie in den letzten Jahren zu Hause?

Zuletzt nur noch einmal im Jahr – zu Weihnachten – früher auch mal im Sommer. Meine Tochter ist öfter gekommen mit ihrem Mann und den Kindern. Und die Enkelkinder waren auch schon alleine hier.

Worauf freuen Sie sich am meisten?

Dass ich nicht mehr alleine für alles verantwortlich bin. Das ist eine Last. Ich muss immer organisieren, an alles denken, die Rechnungen bezahlen, Nähgarn und Waren besorgen. Jeden Tag von morgens bis abends arbeiten. Früher hat mir das nichts ausgemacht und ich habe auch gerne neue Sachen genäht. Später habe ich mich aufs Reparieren und Flicken konzentriert. Aber auch das fällt mir immer schwerer.

Sagen Sie zu den Kunden auch mal, dieses Kleidungsstück ist so kaputt, das nehme ich nicht an?

Ich nehme alles an, auch Sachen, wo es sich eigentlich nicht mehr lohnt und ich denke, das ist mir eigentlich zu viel Arbeit. Zum Teil ist es sehr schwierig, die Sachen wieder so schön zu machen, dass man sie weiter tragen kann. Wenn ich es dann doch mache, sagen die Kunden oft: Du bist die Beste. (lacht)

Ihre Preise seien viel zu niedrig, heißt es.

Mir ist aufgefallen, dass die Leute immer weniger Geld haben: Es gibt viele Arme hier und ich liebe diese Menschen. Man kann nicht alles in Rechnung stellen. Ich bin froh, wenn die Leute zufrieden sind, und habe nie Reklamationen. Manchmal kommen aber auch neue Kunden und sagen, ich sei zu teuer. Ich antworte dann: Tut mir leid, aber Sie können nicht ein Kleidungsstück für 14 Euro kaufen und es dann für zwei Euro reparieren lassen. Das geht nicht, ich muss ja auch leben. Sie sind dann nicht böse.

Ihr Geschäft grenzt ans Rotlichtviertel. Bekommen Sie davon etwas mit?

Früher hatte ich viele Prostituierte als Kundschaft. Da drüben auf der anderen Seite der Winterfeldstraße haben sie gestanden. ‚Oh Mama‘ haben sie immer zu mir gesagt. Jetzt stehen sie in der Bülowstraße. Ich habe viel erlebt in Berlin. Viele gute Sachen, manchmal auch schlechte.

Was haben die vielen Marienbilder in Ihrem Laden zu bedeuten?

Ohne Gott geht es nicht. Früher habe ich nicht so stark geglaubt. Jetzt frage ich mich, was ist passiert mit dieser Welt? Ich gehe regelmäßig in die Kirche, auch manchmal abends nach der Arbeit.

Die Frage, in Deutschland zu bleiben oder zurückzugehen, beschäftigt viele Migranten, wenn sie alt werden.

Ich kenne viele, die hier bleiben. Ihre Kinder sind hier geboren. Sie sind Rentner und bleiben da, wo ihre Kinder sind. Oder sie sind ein halbes Jahr dort und sechs Monate hier. Wenn meine Tochter hier leben würde, würde ich auch hier bleiben, sicher. Aber alleine? Trotzdem kenne ich das Leben in Kroatien nur noch vom Urlaub. Meine Freunde von früher sind auch schon gestorben oder weggezogen.

Und wer tritt hier an Ihre Stelle?

Das weiß ich nicht. Je näher der Abschied kommt, umso mehr muss ich weinen. Und die Kunden auch: Sie bringen mir Blumen mit und Schokolade. Ich muss nach Hause und noch ein bisschen leben, versuche ich mich zu trösten. Aber das fällt mir so schwer!

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