Kolumne Nullen und Einsen: Auf der Suche nach dem Fokus

Die große Aufmerksamkeitsspanne könnte ein schönes Leben haben, wäre ihr nicht ihr Fokus verlorengegangen. Die Erzählung einer Suche.

Eine weiße Bank vor gelben Tulpen

Unsichtbar, aber doch da: der Fokus Foto: unsplash/Dimitri Tyan

Die große Aufmerksamkeitsspanne hat eigentlich ein schönes Leben. Sie ist sehr diszipliniert, liest viel, lernt einiges und erlebt so immer wieder Neues. Doch heute ist die große Aufmerksamkeitsspanne ganz unglücklich, denn sie hat ihren Fokus verloren. Sie hat nur einmal aus dem Fenster geschaut und dann war ihr Fokus einfach weg.

Drei Arbeitskollegen versuchen sie aufzumuntern: „Du kannst ja gar nichts dafür“, sagen sie, „das Internet ist schuld.“ „Das Internet?“, fragt die große Aufmerksamkeitsspanne verwundert. „Was hat das Internet mit meinem Fokus zu tun?“ Die Arbeitskollegen antworteten: „Diese digitale Welt ist so schnell und unübersichtlich“, sagt der erste, „da hat sich dein Fokus sicher verloren.“

„Das Internet macht süchtig“, sagt der zweite, „vielleicht ist der Fokus krank danach geworden.“ Der dritte räuspert sich. „Ich will dir keine Angst machen“, flüstert der Freund, „aber du hast doch sicher schon von dem Informationsüberfluss im Internet gehört. Vielleicht hat die Flut deinen Fokus weggeschwemmt.“

Die große Aufmerksamkeit bekommt Panik und begibt sich auf die Suche ins Internet. Die großen Suchmaschinen bringen sie nicht weiter, sondern schlagen ihr immer wieder nur den Focus vor. Sie lädt eine To-do-Organisations-App herunter, um die Orte zu sortieren, an denen sie suchen muss. Aber besonders effektiv ist das nicht, sie ist mehr mit dem Sortieren in der App, als mit der Suche selbst beschäftigt.

Alles Ablenkung, nichts hilft

Auch die Meditationsapp, die verspricht, den Fokus zu finden, kann der großen Aufmerksamkeitsspanne nicht weiterhelfen. Denn die gut gemeinten Tipps, die ihre Arbeitskollegen ihr ständig im Gruppenchat schicken, lenken sie von ihrer inneren Reise zum Fokus ab.

Als Nächstes versucht die große Aufmerksamkeitsspanne nur noch nachts zu arbeiten, wenn die Timelines in den sozialen Netzwerken schlafen. Mit weniger Bewegung im Netz findet sie vielleicht ihren Fokus. Doch der großen Aufmerksamkeitsspanne fallen nur selbst die Augen zu. Also gibt sie die Suche auf. „Vielleicht hatten meine Arbeitskollegen Recht“, denkt sie, „das Internet ist so groß und schnell und gefährlich, dort werde ich meinen Fokus niemals wiederfinden.“ Also geht die große Aufmerksamkeitsspanne raus in den Park und traut ihren Augen kaum. Auf der Bank liegt ihr Fokus in der Frühlingssonne.

Als die große Aufmerksamkeitsspanne ihren Arbeitskollegen davon berichtet, mahnen sie: „Du solltest deinen Fokus nun besser trainieren“, schreibt der erste, „er muss jetzt etwas reißen.“ „Du solltest dem Fokus beibringen, sich richtig zu setzen“, sagt der zweite, „ihr müsst etwas erreichen.“ „Du musst den Fokus zwingen, sich zu steigern“, rät der dritte, „es geht um eure gemeinsame Leistung.“ Doch die große Aufmerksamkeitsspanne denkt nicht dran, jetzt weiterzuarbeiten. Sie kauft zwei Kugeln Zitroneneis und legt ihren Fokus auf den schönen Frühlingstag.

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