Ein Tröpfchen Blut

Sabine Hahn hat keinen Test auf das Downsyndrom gemacht, die Tochter Liv kam damit zur Welt. Hahn würde wieder so entscheiden – viele andere Frauen aber nicht. Werden Menschen mit Beeinträchtigung künftig aussortiert?

„Mit ihr stimmt alles.“ Sabine Hahn mit ihrer Tochter Liv. Sie ist mit dem Downsyndrom geboren

Von Patricia Hecht
(Text) und Julia Baier (Foto)

Fünf Jahre versuchte Sabine Hahn zusammen mit ihrem Mann Christian, schwanger zu werden. Überall, erzählt sie, habe sie Frauen mit dicken Bäuchen gesehen, und je länger sie nicht zu ihnen gehörte, desto mehr setzte sich das Paar mit dem Gedanken auseinander, ungewollt kinderlos zu bleiben. Ganz unerwartet war der Schwangerschaftstest dann eines Tages positiv. „Von dem Moment an war ich verknallt“, sagt Hahn. „Liv war ein absolutes Wunschkind.“

Ihre Frauenärztin wies sie darauf hin, dass sie aufgrund ihres Alters zur Gruppe der sogenannten Risikoschwangeren gehöre. „Was für ein abwertender Begriff“, sagt Hahn, eine schlanke Frau mit rotblonden Haaren, und schüttelt den Kopf. „Das ganze Leben ist ein Risiko.“

Die heute 44 Jahre alte Grafikdesignerin und ihr Mann sprachen zwar darüber, was wäre, wenn ihr Kind eine Behinderung bekäme. Mehr als die üblichen Vorsorgeuntersuchungen wollten sie aber nicht in Anspruch nehmen. Auch Bluttests auf das Downsyndrom, die vor Livs Geburt schon auf dem Markt waren, machte Sabine Hahn nicht. „Nach der langen Wartezeit fühlte ich mich sehr befreit“, sagt sie. „Ich wollte die Schwangerschaft einfach genießen.“

Sabine Hahn entschied sich gegen den Trend. Denn schon seit 2012 gibt es Tests, mit denen unter anderem Trisomie 21 vorgeburtlich bestimmt werden kann – nicht wie früher durch einen mit Risiken behafteten Eingriff wie eine Fruchtwasseruntersuchung, sondern ganz gefahrlos durch einen Bluttest der Schwangeren. Trisomie 21, das auch Downsyndrom genannt wird, verursacht kognitive Beeinträchtigungen und zum Teil Organprobleme. Praxen berichten, dass die Tests auf großes Interesse stoßen. „Nach dem fragen jetzt alle“, sagt die Sprechstundenhilfe einer gynäkologischen Praxis in Berlin-Kreuzberg am Telefon.

Was das bedeutet, darüber will am Donnerstag der Bundestag debattieren. „Vorgeburtliche Bluttests – wie weit wollen wir gehen?“ fragen zehn ParlamentarierInnen von Grünen, CDU, SPD und Linkspartei in ihrem Positionspapier, mehr als 100 ParlamentarierInnen unterstützen die Initiative. „Derartige Tests“, schreiben die Abgeordneten, würden angeboten, „ohne dass die gesellschaftlichen Auswirkungen und ethischen Fragen, die sich durch ihre Anwendung ergeben, von irgendeiner Instanz geprüft und bewertet wurden“.

Eine Frage ist, wie die Gesellschaft mit Menschen mit Beeinträchtigung, speziell mit Downsyndrom, umgeht – und ob für Menschen mit Downsyndrom überhaupt ein Platz vorgesehen ist. Denn von den Frauen, bei deren Föten das Downsyndrom festgestellt wird, entscheiden sich viele für den Abbruch der Schwangerschaft. Die Zahlen werden in Deutschland nicht erfasst. Aber in Dänemark, wo seit 2005 allen Schwangeren eine Risikoabschätzung auf Trisomie angeboten wird, hat sich die Zahl der mit dem Downsyndrom geborenen Kinder seitdem halbiert.

Eine weitere Frage ist, ob die Krankenkassen diese Bluttests bezahlen sollen. Erst Ende März beriet der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), in dem ÄrztInnen und Krankenkassen vertreten sind, ob die Kassen die sogenannten nichtinvasiven Pränataltests (NIPT), wie die Tests korrekt heißen, künftig übernehmen sollen. Das Ergebnis: Für alle Schwangeren wird das wohl nicht der Fall sein. Bei Schwangerschaften mit „besonderem Risiko“ allerdings sieht der GBA die Tests als „im Einzelfall mögliche Leistung“ an, sagte GBA-Vorsitzender Josef Hecken.

Allein das Alter der Schwangeren soll dabei zwar kein ausreichendes Risiko sein. Was eines wäre, müsse individuell entschieden werden, heißt es auf Nachfrage aus dem GBA. Wenn wissenschaftliche Fachgesellschaften wie der Deutsche Ethikrat, die Gendiagnostik-Kommission und zahlreiche weitere Organisationen ihre Stellungnahmen zum Verfahren abgegeben haben, will das Gremium im August über den Beschlussentwurf zur Kostenübernahme durch die Kassen beraten und entscheiden.

Bei Hahn kam die Geburt früh, ging schnell, die Kinderärztin legte Hahn ihre Tochter auf die Brust. „Ich hab sie angeschaut, und irgendwie war’s mir da klar“, sagt Hahn. Kinder mit Downsyndrom haben häufig leicht schräg stehende Augen. „Den Schockmoment, von dem immer gesprochen wird, gab es bei mir nicht“, sagt Hahn. „Was ist das auch für ein scheußlicher Start ins Leben, wenn deine Eltern von dir geschockt sind.“

Die Welt jenseits der Familie ist auf Menschen mit 46 Chromosomen zugeschnitten

Liv Hahn ist eine lebhafte Fünfjährige mit rotblonden Haaren wie ihre Mutter, sie schaut gern Baustellen und Bagger an, bekommt gern vorgelesen und mag Musik. Bei StraßenmusikantInnen müsse man immer stehenbleiben und Münzen in den Hut werfen, sagt Christian Hahn. Beim Gespräch in der Altbauwohnung der Hahns im Berliner Stadtteil Charlottenburg, wo sie seit einem halben Jahr wohnen, spielt Liv mit ihrer Ukulele, auch ihren Vater fordert sie auf, für ihr Spiel zu bezahlen. Der Alltag in der Familie, sagen die Eltern, sei mit allen Freuden und Ärgernissen derselbe wie bei anderen auch. Aber die Welt jenseits der Familie sei auf Menschen mit 46 Chromosomen zugeschnitten.

Trisomie 21 ist die häufigste Auffälligkeit, nach der bei vorgeburtlichen Bluttests gesucht wird. Auf 700 Schwangere aller Altersstufen kommt ein Fötus, bei dem das Chromosom 21 dreifach vorhanden ist. Nach Livs Geburt ging ein Untersuchungsmarathon los. „Ich hatte keine Ahnung vom Downsyndrom“, sagt Hahn, „und dann sind lauter Stereotype auf mich eingeprasselt.“ Doch Herz und Organe sind bei Liv intakt, wie etwa bei rund zwei Dritteln der Kinder mit derselben Diagnose. Auch sonst ist jenseits der Trisomie nichts auffällig.

Doch dass Liv die Diagnose anzusehen ist, drückt ihr einen Stempel auf, wie Sabine Hahn sagt. Mal wird Liv angestarrt, mal sie selbst – manchmal allerdings auch angelächelt oder angesprochen, oft von Fremden, die ebenfalls ein Kind mit Downsyndrom haben. In ihrer Kita ist sie das erste Kind mit Inklusionsstatus, sie geht gern hin, auch die Kitaleitung ist zufrieden. Nur Freundinnen ohne Downsyndrom, wie sie sie an ihrem vorherigen Wohnort hatte, hat sie noch nicht gefunden. Auch manche Eltern in der Kita oder auf dem Spielplatz wüssten nicht genau, wie sie mit Liv umgehen sollten, sagt Hahn. „Die meisten üben vornehme Zurückhaltung.“ Ihr sei es lieber, wenn gefragt werde. „Sonst ist das wie ein Vakuum: Es kommt keine Luft rein.“

Mit den Bluttests, befürchtet Hahn, könnte sich dieses Vakuum ausdehnen. Schon das Vokabular, das oft verwendet wird, findet sie schwierig: „Es soll ‚nichts Schlimmes‘ bei dem Test herauskommen – was impliziert, dass Downsyndrom etwas Schlechtes ist“, sagt Hahn. Sie verurteile Menschen nicht, die sich für den Test oder auch den Abbruch der Schwangerschaft entscheiden. Und von sogenannten LebensschützerInnen, die versuchten, Frauen zu kontrollieren, distanziere sie sich. „Aber die Tests und die oft mangelhafte Beratung der ÄrztInnen bedeuten, dass Kinder mit Downsyndrom möglichst aussortiert werden.“

„Den Schockmoment gab es bei mir nicht. Was ist das auch für ein scheußlicher Start ins Leben, wenn deine Eltern von dir geschockt sind“

Sabine Hahn, Mutter eines Mädchens mit Downsyndrom

Kai-Sven Heling sieht das anders. Heling ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, seine Praxis für Pränataldiagnostik Friedrichstraße liegt nur wenige Meter von der Spree entfernt in Berlin-Mitte. Auch wenn die Möglichkeiten, immer mehr und immer bessere Tests zu machen, stetig zunehmen, sei die Sorge, es könnten Designerbabys entstehen, „realitätsfern“, sagt Heling. In 25 Jahren Berufserfahrung habe er noch keine Frau erlebt, die sich die Entscheidung für die Beendigung einer Schwangerschaft leicht mache: „Die Entscheidung wird zum Teil ihres Lebens, so oder so.“

Die Flure in der Praxis des 52-Jährigen sind mit grauem Teppich ausgelegt, an den Wänden hängt abstrakte Malerei. In seinem Büro quillen die Bücherregale vor medizinischer Fachliteratur über. Heling arbeitet mit dem Pränatest, der von der Firma LifeCodexx AG in Konstanz produziert und vertrieben wird. Die AG war die erste Firma, die einen solchen Test in Deutschland anbot – und die, die beim Gemeinsamen Bundesausschuss den Antrag auf Kassenzulassung stellte.

Heling, dunkle Jeans, blauer Rollkragenpullover, ist ein Mann, der schnell zum Punkt kommt. Zwar sei es eine gesellschaftliche Debatte, wie mit Downsyndrom umzugehen sei, sagt er. „Aber die Frau bekommt das Kind, nicht die Gesellschaft.“ Aus Schwangerschaften, findet Heling, solle sich der Staat weitgehend heraushalten: Ob eine Frau ein Kind austrage oder nicht, sei die „individuelle Entscheidung der Frau und Teil von Pluralismus und Demokratie“. Da habe ihr niemand reinzureden.

Ohnehin befürchtet Heling, dass sich die Debatte um die Tests nur zum Teil um die Tests drehe – und zum Teil von Menschen instrumentalisiert werde, die „andere Interessen verfolgen“, wie er sagt. „Die Gesellschaft wird wieder konservativer. Frauen sollen unter Druck gesetzt werden, keine Abbrüche mehr zu machen.“

Zu Heling, der selbst drei Töchter hat, kommen überwiegend Frauen, die von ihren GynäkologInnen zur Feindiagnostik überwiesen werden, also zur „Beschreibung der normalen Anatomie, dem Nachweis organischer Fehlbildungen oder dem Nachweis mütterlicher Erkrankungen in der Schwangerschaft“, wie er sagt. Schätzungsweise ein Drittel seiner Patientinnen macht den Bluttest. Etwa die Hälfte aller Frauen, die zu ihm kommen, sind 35 Jahre und älter. Je älter die Schwangere, desto größer sei das Risiko, ein Kind mit Downsyndrom zu bekommen, sagt Heling. „Damit ist es die häufigste und eine klassisch altersabhängige Krankheit – oder wie auch immer man das nennen mag“, sagt er. „Ein zusätzliches Chromosom bedeutet auf jeden Fall: nicht normal, nicht komplett gesund.“

Die Tests, mit denen das festgestellt werden kann, haben sich rasant entwickelt. „Aus medizinischer Sicht ist der nichtinvasive Pränataltest ein exzellenter Screen“, sagt Heling. Auf Trisomie 21 bezogen liegt die Entdeckungsrate mittlerweile bei bis zu 99 Prozent. Allerdings screent der Test nicht nur auf das Downsyndrom, sondern auch auf die beiden Trisomien 13 und 18, die mit überdurchschnittlich hohen Säuglingssterblichkeiten und schweren Behinderungen einhergehen. Bei diesen Trisomien liegen die Entdeckungsraten bei Weitem nicht so hoch wie für das Downsyndrom. Heling fordert deshalb, dass zusätzlich zu den Tests ein Ultraschall gemacht werden müsse.

Die Bluttests sind deutlich günstiger geworden. Kosteten sie zu Beginn noch um die 1.200 Euro, sind sie mittlerweile für 130 Euro bis 300 Euro zu haben. Schon durch die gesunkenen Kosten sei die Akzeptanz stark gestiegen, sagt Heling. Und dennoch: „Wenn man ihn nicht bezahlt, schafft man eine Zwei-Klassen-Medizin“, befürchtet er. „Die, die es sich leisten können, machen den Test. Und die anderen eben nicht.“

In den Untersuchungszimmern in Helings Praxis stehen eine Liege und ein Ultraschallgerät, auf einem Flatscreen kann die Frau oder das Paar die Bilder verfolgen. Falls Auffälligkeiten entdeckt werden, gibt es weitere Räume mit einem roten Ledersofa und einer bequemen Liege für die Schwangere. Heling beschreibt, was Sabine Hahn für sich verneint: „Wenn Frauen ein Ergebnis bekommen, mit dem sie nicht rechnen, sind sie oft vor den Kopf geschlagen, traurig, unsicher.“ Zunächst folgen dann Gespräche, mit ÄrztInnen und einer psychologischen Psychotherapeutin. Die Empfehlung in solchen Fällen ist, die Auffälligkeit, die der Test angezeigt hat, mit einer Fruchtwasseruntersuchung endgültig abzuklären. Erst diese sei die Grundlage, um über weitere Schritte zu reden: „Schwangerschaft austragen, Startchancen durch Geburten mit angebundener Kinderklinik verbessern“ – oder eben die Schwangerschaft beenden.

Die Fruchtwasseruntersuchung, schätzt Heling, nehmen rund 90 Prozent der Frauen in seiner Praxis in Anspruch, bei denen der Bluttest auffällig war. Und nur wenige entscheiden sich wiederum dafür, das Kind trotz Downsyndromdiagnose auszutragen. Drei oder vier Frauen begleite er momentan, sagt Heling, die Babys mit Downsyndrom erwarten. Schätzungsweise sechs bis sieben von zehn Frauen in seiner Praxis entscheiden sich bei Diagnose Trisomie 21 zum Abbruch.

„Der Test hat keinen Nutzen. Es gibt nichts, was man heilen könnte oder müsste“

Warum das so ist, dürfte Teil der Debatte werden, wenn am Donnerstag der Bundestag zusammenkommt. „Unserer Erfahrung nach wird es immer schwieriger für Frauen zu sagen, sie möchten diese Tests nicht machen oder auch Babys mit Downsyndrom austragen“, sagt Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag und Initiatorin der fraktionsübergreifenden Debatte. „So werden gesellschaftliche Erwartungen auf dem Rücken von Frauen ausgetragen.“

„Die Gesellschaft wird wieder konservativer. Frauen sollen unter Druck gesetzt werden, keine Abbrüche mehr zu machen“

Kai-Sven Heling, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe

Persönlich spreche sie sich gegen eine Kassenübernahme der Tests aus, sagt die 43-Jährige am Telefon: „Schlicht aus dem Grund, dass die gesetzlichen Krankenkassen Leistungen finanzieren sollten, die einen medizinischen Nutzen haben. Dieser Test hat keinen. Es gibt nichts, was man heilen könnte oder müsste.“

Die Frage nach der Kassenübernahme sei eine Nuance der Debatte. „Wir sind momentan dabei, eine Situation zu schaffen, in der durch vorgeburtliche Tests immer mehr herausgefunden werden kann“, sagt Corinna Rüffer, die selbst eine Tochter mit Downsyndrom hat. „Wir müssen uns fragen: Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn sie darauf geeicht ist, dass möglichst leistungsfähige Kinder auf die Welt kommen?“

Die Frage, ob eine solche Debatte nicht viel zu spät komme, verneint sie. „Trends können sich verändern“, sagt sie. „Und unser Auftrag ist es, die Gesellschaft so zu gestalten, dass sich im Idealfall die Frage nach Downsyndrom gar nicht mehr stellt – weil das Kind als Bereicherung angesehen wird und nicht als Risiko.“

Dafür allerdings, sagt Pränataldiagnostiker Heling, müsse sich einiges ändern. Auch er fordert gute Rahmenbedingungen für diejenigen, die Kinder mit Downsyndrom austragen wollen. Denn denen, das habe sich in der Vergangenheit gezeigt, würden Steine in den Weg gelegt. Eine Frau, erzählt er, habe in der Tourismusbranche gearbeitet und musste ihren Job wechseln, weil sie keine Krankenkassen gefunden habe, die eine Auslandsversicherung für Kinder mit Downsyndrom abschließe. „Da muss der Staat handeln“, sagt er. „Er lässt die Frauen viel zu sehr allein.“

An dieser Stelle entsprechen sich die Perspektiven von Heling und Hahn. Die Möglichkeiten für Menschen mit Downsyndrom müssten verbessert werden, fordert auch Hahn. Viele Kitas und Schulen lehnten Inklusion ab, später arbeite die überwiegende Mehrheit der Menschen mit Downsyndrom in Behindertenwerkstätten, obwohl viele auch im ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen könnten. Oft hängt das davon ab, ob die Leuten sich offen zeigten – oder eben nicht. „Menschen mit Downsyndrom, sagt Sabine Hahn, „fallen einfach schnell aus dem Raster.“

Doch Liv, sagt sie, werde von ihr nie das Gefühl bekommen, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. „Mit ihr“, sagt Hahn, „stimmt alles.“