SPD will Hartz IV reformieren: Gegen die Absturzangst

Die SPD versucht in ihrem Sozialstaatspapier eine Revision von Hartz IV. Und sie will der Mittelschicht die Sorgen nehmen. Eine Analyse.

Andrea Nahles im Porträt

Schon im Herbst hatte Andrea Nahles gesagt: „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen“ Foto: dpa

BERLIN taz | Es gilt als historischer „Verrat“ der SPD an der arbeitenden Mittelschicht: Die Einführung von Hartz IV im Jahr 2005, die zum millionenfachen Stimmenverlust der Sozialdemokraten, zu ihrem Abstieg in der WählerInnengunst beitrug. Nun wagt die Partei eine Revision, mit einem 17-seitigen Papier „Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit“, das der SPD-Vorstand am Sonntag beschließen soll. „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen“, hatte SPD-Chefin Andrea Nahles im vergangenen Herbst versprochen. Doch was wird davon in dem Papier umgesetzt?

Die wichtigste Änderung, welche die Absturzangst der Mittelschichten bannen soll, ist der verlängerte Bezug von Arbeitslosengeld I und der Vermögens- und Wohnungsschutz für die ersten zwei Jahre in Hartz IV, das in Zukunft laut SPD-Papier in „Bürgergeld“ umgetauft werden soll.

Bisher wird Arbeitslosengeld I abhängig von Beschäftigungsdauer und Lebensalter gezahlt, bei mindestens 58-Jährigen bis zu einer Dauer von 24 Monaten. Danach rutschen die Erwerbslosen in den Hartz IV-Bezug, der eine Bedürftigkeitsprüfung verlangt. Wer also etwas Vermögen besitzt, bekommt erstmal nichts. Denn das Ersparte muss bis auf einen Freibetrag für den Lebensunterhalt aufgebraucht werden, bevor man überhaupt Hartz IV erhält. Ältere Langzeitarbeitslose ohne Aussicht auf einen neuen Job können auf diese Weise innerhalb kurzer Zeit ihr Erspartes verlieren, bevor sie dann Hartz IV in Höhe der Sozialhilfe kriegen. Die Angst vor diesem Absturz hat die SPD nach der Einführung von Hartz IV Millionen Stimmen gekostet.

Das neue Papier hält nun dagegen: Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes soll auf bis zu 33 Monate verlängert werden, hinzu kommen Weiterbildungszeiten. „Eine maximale Bezugsdauer von 36 Monaten“ soll möglich sein, steht in dem Papier. Das heißt, ein älterer Arbeitsloser oder eine ältere Arbeitslose wären zunächst für drei Jahre durch die Sozialleistungen abgesichert, ohne dass das Vermögen angetastet, die Angemessenheit der Wohnung in Frage gestellt oder nach dem Einkommen des Partners gefragt wird.

Harte Abstürze vermeiden

Auch danach soll ein harter Absturz vermieden werden. Bei wem das Arbeitslosengeld I ausgelaufen ist und wer nun Hartz IV beantragen muss, bei dem will die SPD laut Papier „für zwei Jahre Vermögen und die Wohnungsgröße nicht überprüfen“. Hartz IV soll dabei in „Bürgergeld“ umbenannt werden.

Die neuen Regelungen würden dazu führen, dass etwa ein 58-jähriger, langjährig Beschäftigter ohne Job möglicherweise künftig fünf Jahre lang erst Arbeitslosengeld I und Weiterbildungsgeld (ALG Q), danach dann „Bürgergeld“ bekäme, ohne dass er sein Vermögen für den eigenen Lebensunterhalt verbrauchen müsste. Nach fünf Jahren Bezugszeit, mit 63 Jahren wäre möglicherweise ein vorgezogener Rentenbezug mit Abschlägen möglich. Der Superabsturz in eine Sozialleistung mit vollständiger Bedürftigkeitsprüfung wie es heute bei Hartz IV der Fall ist, wäre damit vermieden.

Nicht geschützt wären allerdings kleine Selbständige, die etwa nach einer Firmenpleite direkt in den Hartz-IV-Bezug rutschen, ohne eine vorhergehende Phase von Arbeitslosengeld I. Für sie gelte dann wie auch heute schon von Beginn an eine Bedürftigkeitsprüfung, sie müssten ihr Erspartes bis auf einen Freibetrag erst aufbrauchen.

Früher Ruhestand auf Kosten der Sozialkassen?

Fraglich ist zudem, ob Arbeitgeber die längeren Bezugsdauern nicht dazu nützen könnten, ihre Beschäftigten auf Kosten der Sozialkassen in eine Art frühen Ruhestand zu schicken, so wie dies in den 90er Jahren millionenfach der Fall war. Um dem zuvorzukommen, sollen gewährte Abfindungen auf die Sozialleistungen angerechnet werden, heißt es in dem SPD-Papier.

Die Hartz-IV-Sätze, also die künftigen Bürgergeld-Sätze selbst sollen nicht erhöht werden. Sanktionen etwa bei mangelnder Kooperation mit dem Jobcenter sollen aber künftig abgemildert werden, man wolle „die Kürzung der Wohnkosten abschaffen“, heißt es in dem Papier. Die Übernahme der Mietkosten durch die Jobcenter bleibt also in jedem Fall gesichert, auch bei Sanktionierung.

Viele Hartz-IV-EmpfängerInnen in den Metropolen haben allerdings das Problem, das gestiegene Mieten auch für bescheidene Wohnungen nicht übernommen werden, weil sie die Angemessenheitsgrenzen überschreiten. Es gibt EmpfängerInnen, die den überschießenden Betrag dann sogar aus dem mageren Regelsatz bezahlen müssen. Zu dieser Problematik findet sich nichts in dem SPD-Papier.

Kaputte Waschmaschinen und alte Winterjacken

„Speziellen Bedarfen und Härten“ solle das Jobcenter künftig aber eher begegnen. Zum Beispiel, wenn „plötzlich die Waschmaschine kaputtgeht und gleichzeitig die alte Winterjacke aufgetragen ist“, heißt es in dem Papier. Wenn damit gemeint ist, dass man erst eine aufgetragene alte Winterjacke vorweisen muss, um das Geld für die Reparatur einer Waschmaschine zu bekommen, wäre dies etwas merkwürdig. Wenn die Passage aber bedeutet, dass die früheren „einmaligen Leistungen“ bei besonderen Notsituationen teilweise wieder eingeführt werden, wäre damit einer langjährigen Forderung der Wohlfahrtsverbände nachgegeben.

Bisher müssen Hartz-IV-BezieherInnen Kredite beim Jobcenter aufnehmen, wenn etwa Geld für die Reparatur eines Haushaltsgeräts gebraucht wird. Diese Kredite werden dann vom ohnehin mageren Regelsatz mühsam abgestottert.

Hartz-IV-BezieherInnen, also künftige „Bürgergeld-EmpfängerInnen“ sollen laut dem SPD-Papier auch ein „Recht auf Arbeit“ bekommen, also ein „passgenaues Angebot auf Weiterbildung/Qualifizierung oder auch ein Angebot auf Arbeit“. Das Recht auf Förderung eines Berufsabschlusses soll dabei auch mehr als zweijährige Förderungsdauern beinhalten. Dies könnte eine wirkliche Verbesserung sein, denn Jobcenter verweigern oft Wünsche nach bestimmten Ausbildungen, die Leistungsempfänger äußern.

Kindergrundsicherung für alle

Familien sollen durch eine „Kindergrundsicherung“ besser gestützt werden, sieht das SPD-Papier vor. Einzelne bisher schon existierende Leistungen wie Kindergeld (für alle Eltern), steuerlicher Kinderfreibetrag (lohnt sich nur für GutverdienerInnen), Kinderzuschlag (gibt es derzeit für gering verdienende Eltern) und Hartz-IV-Leistungen für Kinder will die SPD „zusammenführen“ und „vereinfachen“.

Das Existenzminimum für ein Kind wird dabei im SPD-Papier mit 408 Euro im Monat angesetzt. Ob Familien im Hartz-IV-Bezug dann aber für ihre Kinder tatsächlich mehr Geld bekommen, bleibt unklar.

Bisher gilt für ein Schulkind bis zum Alter von 14 Jahren beispielsweise ein Hartz-IV-Regelsatz von 302 Euro. Hinzu kommt noch ein Mietkostenanteil für das Kind, der in Berlin etwa für eine Alleinerziehende bei rund 90 Euro liegt. Rechnet man noch andere Subventionen für Kinder im Hartz-IV-Bezug dazu, käme man heute schon auf ein rechnerisches Existenzminimum durch Sozialleistungen vom Jobcenter. Nur hießen diese Leistungen dann eben „Kindergrundsicherung“ und nicht mehr „Hartz IV“.

Bei der Kindergrundsicherung soll aber das „Einkommen der Eltern“ die „Orientierung“ bleiben, heißt es in dem Papier. Mittelschichtsfamilien dürften also möglicherweise nicht mehr Geld bekommen als jetzt schon durch das Kindergeld, außer dass die Leistung dann eben auch „Kindergrundsicherung“ hieße.

Vorschläge, die billig sind

Die SPD will sich, so das Papier, dafür einsetzen, dass der Mindestlohn „perspektivisch“ auf 12 Euro – von bisher 9,19 Euro – angehoben wird. Tarifgebundene Unternehmen sollen steuerlich besser gestellt werden als nicht-tarifgebundene Unternehmen, sieht das Papier vor. Der Aufschrei der ArbeitgeberInnen ist garantiert.

Froh ist die SPD um jeden Vorschlag, der nicht Fragen nach der Finanzierbarkeit aufwirft. So sollen ArbeitnehmerInnen ein gesetzlich verankertes „Recht auf mobiles Arbeiten und Homeoffice“ bekommen. Hier dürften die Details darüber entscheiden, inwieweit betriebliche Belange dieses Recht einschränken können.

Wie die Vorschläge, die Geld kosten, finanziert werden sollen, wird in dem SPD-Papier nicht angesprochen. Die Kassen in der Arbeitslosenversicherung sind allerdings derzeit gut gefüllt. Das Papier ist vor allem auch ein psychologisches Signal an ArbeitnehmerInnen: Wir schützen euch. Im aktuellen Politbarometer des ZDF legte die SPD in der Wählergunst um zwei Prozentpunkte auf 16 Prozent zu.

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