DDR-Sexualforscher über den Osten: „Die meisten Menschen sind zärtlich“

Kurt Starke spricht darüber, warum die Leute in der DDR früh Eltern wurden. Außerdem erklärt er das mangelnde Selbstbewusstsein im ehemaligen Osten.

Ein junges Paar aus Mann und Frau überquert mit Kinderwagen eine Straße

In der DDR wurden viel früher feste Beziehungen eingegangen Foto: imago/stana

taz am wochenende: Herr Starke, Sie haben in der DDR über Sexualität geforscht und vor und nach 1989 zu Ihrem Thema veröffentlicht. Was würden Sie knapp dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer sagen: Sind Sie in Gesamtdeutschland angekommen?

Kurt Starke: Ich bin schon lange da. Ich habe vierzig Jahre DDR erlebt und war auch schon ein wenig vor ihrer Gründung auf der Welt. Aber ich denke ohnehin, dass vieles in Deutschland auf Gemeinsamkeiten in einer langen Geschichte beruht. Goethe beispielsweise hat in Leipzig studiert und in Weimar gelebt, aber kein Mensch würde den als Ossi bezeichnen. Was ich zu sagen versuche: Über Fragen der Identität muss man in größeren Bögen denken.

Ist es müßig, darüber nachzudenken?

Da bin ich nicht sicher. Wenn Sie zum Beispiel Ihre Frage nach dem Angekommensein einem Westdeutschen gestellt hätten, wäre der verdutzt, und dann würde sich erstens herausstellen, dass er die BRD als sein Deutschland betrachtet und nach wie vor ein wenig fremdelt mit dem Osten. Was ich ja oft höre: Schöne Städte, herrliche Landschaften, viel Liebenswertes, aber wir verstehen die Ostdeutschen nicht. Hinzu kommt ein latentes Siegergefühl. Die Tatsache, dass der eine Staat verschwunden ist und der andere geblieben, mag vielen als Wertmaßstab dafür gelten, dass sie selber von niederem oder eben höherem Wert sind. Das muss nicht bewusst sein – aber da ist eine Grenze. Und diese Grenze nimmt der Ostdeutsche wahr und fühlt sich möglicherweise zweitrangig.

Fühlen Sie sich zweitrangig?

Ich habe mich entschlossen, mich nicht zweitrangig zu fühlen. Aber ich weiß und spüre, dass es Grenzen gibt, durch die ich als Ostdeutscher benachteiligt bin. Seit der Wende bin ich zum Beispiel nicht mehr in die Forschungsförderung gekommen. Es musste immer ein Westdeutscher dabei sein. Ich hatte großes Glück, weil ich gute Partner gefunden habe, die mit mir zusammenarbeiten wollten. Aber den Forschungsauftrag habe nie ich bekommen.

Aber es gibt doch auch Annäherung, Interesse am Osten und den Ostdeutschen.

Es geht mir nicht darum, die DDR zu verteidigen oder Dinge zu verschweigen. Sondern darum, dass hier Menschen gelebt haben und sich redlich bemüht haben, etwas aus ihrem Land und ihrem Leben zu machen. Sie haben geliebt und Kinder großgezogen und in Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft aus oft wenig manchmal viel gemacht, das wird aber leicht weggewischt. Aus diesem unterschiedlichen Verständnis erklären sich bestimmte Widersprüche, die dann wieder von Rechten ausgenutzt werden, um den Unmut auf die ostdeutschen Straßen zu holen.

Sie gelten als Sexpapst des Ostens. Wie gefällt Ihnen das?

Das ist nur so eine Betitelung. Und sowieso: Ich will den Leuten nicht päpstlich vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Mir liegt daran, dass möglichst viele erfahren, was ich erforscht habe. Gewissermaßen den Befragten über die Ergebnisse Rechenschaft abzulegen.

Wie sind Sie eigentlich Sexualforscher geworden?

Sexualforscher ist kein Ausbildungsberuf mit staatlich anerkanntem Abschluss und konnte auch kein jugendlicher Traum sein. Aber es ist auch kein Zufall, dass ich einer geworden bin. Ich habe mich der Soziologie zugewandt, als es die in der DDR eigentlich noch gar nicht gab. Ab 1967 habe ich im gerade gegründeten Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig gearbeitet. Dort haben wir große interdisziplinäre Untersuchungen organisiert und irgendwann gespürt: Man kann Jugend nicht erforschen und dabei Liebe, Partnerschaft, Sexualität ausklammern.

Richtig groß wurde das Forschungsgebiet aber erst 1972 mit unserer ersten Partnerstudie. Damals wurde die Pille auf Rezept eingeführt und der Schwangerschaftsabbruch wurde legalisiert. Zugleich verabschiedete die SED ein millionenschweres sozialpolitisches Programm, das unter anderem Studenten mit Kindern förderte.

Welche Auswirkungen hatte das?

Der Mensch

Geboren wurde Kurt Starke 1938 als drittes von fünf Kindern und als Sohn einer Verkäuferin und eines Dachdeckers. 1958 heiratete er seine Frau Uta, mit der er gemeinsam Soziologie studierte und nach wie vor zusammen ist. Starke lebt in Zeuckritz in Sachsen, er hat drei Kinder und drei Enkel.

Der Wissenschaftler

Von 1967 bis 1990 arbeitete Starke am Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig und war dort auch stellvertretender Direktor. Ab 1972 verantwortete er die umfangreichsten empirischen Forschungen zum Partner- und Sexualverhalten in der DDR. Seit der Wende arbeitet Starke in enger Kooperation mit Gunter Schmidt vom Institut für Sexualforschung der Universität Hamburg und machte mehrere Ost-West-Studien. Bis heute tritt er im MDR als Experte auf.

Das war ein gravierender Wandel. Elternschaft im Studium etwa galt bis dahin als privatistisch und kleinbürgerlich. Obwohl in der DDR von Anfang an mehr Frauen als Männer studierten, war das Studium anachronistisch auf den alleinstehenden männlichen, kinderlosen Studenten zugeschnitten. Und plötzlich, nach diesen staatlichen Maßnahmen, stieg die Zahl studierender Mütter und Väter an. In den Siebzigern und Achtzigern waren dann über die Hälfte der Studenten verheiratet, vierzig Prozent hatten sogar eigene Kinder zu versorgen. Das war wie eine Revolution!

Ich habe selbst noch während des Studiums Ende der achtziger Jahre in der DDR ein Kind bekommen.

Dann wissen Sie ja, was ich meine. Die Kinderwagenreihen vor den Seminargebäuden, genau da, wo heute die Fahrräder stehen. Wir an unserem Institut sollten erforschen, was das für die studentische Lebensweise bedeutete. Ich habe mir gesagt: Da machen wir mehr draus, wir nehmen Partnerschaft und Sexualität in die Forschung auf.

Wie kamen Sie gerade auf dieses Thema?

Das hatte mit meiner Biografie zu tun. Ich bin in einer prüden und strengen Zeit aufgewachsen, nach dem Krieg. Meine Mutter war zwar tolerant, aber im Internat meiner Oberschule war Pärchenbildung verboten.

Da waren Sie in der Pubertät …

Mit diesem Begriff arbeite ich wirklich ungern. Bei Jugendlichen wird ja heute alles auf die Pubertät geschoben, ein absoluter Unsinn. Dieser Lebensabschnitt ist eine wunderbare Phase im Leben eines Menschen, verbunden mit riesigen Umbrüchen, die in die Zukunft weisen. Na egal, Pärchenbildung war wie gesagt verboten. Ich musste mit ansehen, wie in der Internatsversammlung Pärchen vorgeführt wurden, weil sie gegen diese Ordnung verstoßen hatten. Das war für die Betroffenen eine Entwürdigung; eine elende Grausamkeit. Ich habe tief mit denen empfunden. Aber letztlich haben wir uns natürlich alle nicht abschrecken lassen. Ich war in der 11. und 12. Klasse Internatskollektivleiter. Dieses Gremium, eine Art Schülervertretung, bestand aus zehn Personen – und das waren fünf Pärchen.

Und eines der Pärchen waren Sie und Ihre Frau?

Ja, das waren wir. Wir haben letztes Jahr unseren 60. Hochzeitstag gefeiert. Die Schulleitung gab solchen wie uns eine schlechte Prognose, sie sah uns im moralischen Schlamm versinken. Wir hätten viel zu früh angefangen! Dabei war das meiste harmlos, na ja, was ist schon harmlos oder harmvoll, belanglos war es für uns keinesfalls. Erstaunlicherweise, obwohl in der DDR mehr und früher geheiratet wurde, ist in meiner Generation, und auch noch in den folgenden, der Anteil an Paaren in ihrer ersten Beziehung weitaus höher als in den alten Bundesländern.

Woran liegt das denn?

Dass in der DDR viel früher feste Beziehungen eingegangen wurden und sofort auch an die Gründung einer Familie gedacht wurde, hing mit dem Selbstwertgefühl der Frauen zusammen. So ein junger Kerl wie ich hatte normalerweise bei gleichaltrigen Mädchen keine Chance. Aber meine Frau hat entschieden: Ich nehm’ den, und das war sinnbildlich für das wachsende Selbstbewusstsein der Frauen in der DDR. Die hatten eine andere Stellung in der Gesellschaft. Lehre, Studium, Berufstätigkeit, Qualifizierung und natürlich ein sicherer Arbeitsplatz standen außer Frage. Baldige Kinder waren gesellschaftlich nicht nur ausdrücklich erwünscht, sondern gehörten auch fest zur individuellen Lebensplanung, auch für Studierende. Das alles brach aber 1990 ab.

Warum?

Ein Studium mit Kind ging unter marktwirtschaftlichen Voraussetzungen nicht mehr. Elternschaft galt gesellschaftlich plötzlich als soziales Risiko. Kinder behindern Berufstätigkeit und Karriere, sie passen heute nicht gut in den Lebenslauf, weder von Frauen noch von Männern. Kinderkriegen ist eine individuelle Angelegenheit, aber eine mit weitreichenden gesellschaftlichen Auswirkungen.

Warum haben die Frauen damals so früh geheiratet und so zeitig Kinder bekommen?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Das werde ich andauernd gefragt. Für mich ist diese Frage ein Zeichen journalistischer Verblödung, nehmen Sie es mir nicht übel. Ja, natürlich haben in der DDR junge Familien die Hilfen gern angenommen, die ihnen mit der Geburt von Kindern zustanden. Aber geheiratet wurde in erster Linie, weil man sich liebte und weil man miteinander Kinder haben wollte. Dass sie damit zur Reproduktion der Gesellschaft beitrugen, sollte man ihnen nicht vorwerfen, und es war gewiss nicht ihr bewusstes Motiv.

Die Tatsache, dass Frauen und Männer über den Zeitpunkt ihrer Elternschaft entscheiden können, ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Das kann aber nur funktionieren, wenn es in Bezug auf das Kinderkriegen einen gewissen Normalismus gibt, also eine Unhinterfragtheit.

Gibt es diese Unhinterfragtheit nicht mehr?

Nein, die ist weg. Stattdessen regiert das Überlegen, das Abwägen, das Rechnen, verbunden mit hohen Ansprüchen und einem subjektiv hohen, manchmal fast mystischen Verantwortungsgefühl für das neue Leben.

Sie haben noch in der DDR Studien zu studentischen Müttern durchgeführt. Was ist dabei herausgekommen?

Der Befund ist klar: Die Entscheidung für das Kind und das gute Gedeihen von Kind und Mutter setzt voraus, dass alle mitziehen, vom Kindesvater über die mitschreibenden Kommilitonen bis zu den Angehörigen, ja bis zu den Hochschullehrern. Also im Grunde die ganze Gesellschaft. In der DDR war das sogar so geregelt, dass die Großmütter der Studentenkinder – die damals so um die fünfzig waren – von ihren Betrieben freizustellen waren, wenn ihr Enkelkind krank wurde.

Bezahlt?

Natürlich, sie waren dann krankgeschrieben auf das Kind. Und auch wenn das alles anstrengend war für mitunter sehr junge Mütter – es war unter vielerlei Gesichtspunkten besser.

Aber nicht alle Menschen wollen Eltern sein.

Natürlich, Kinder sind allgemein ein hohes Gut, vielleicht das höchstes Gut, und gelten als jederzeit willkommen. Aber wenn es drauf ankommt … dann zerschellt das hohe Gut an der praktischen Vernunft. Und an den Umständen, vor allem an den Zwängen der Arbeitswelt. Dabei ist klar: Die freie Entscheidung, Mutter oder Vater zu werden, ist unantastbar, und jeder individuelle Vorwurf und jedes noch so freundliche Drängen von außen sind fehl am Platze. Das aber liegt auf einer anderen Ebene.

Welche wäre das?

Es ist bedenklich, dass ständig geschrieben und erzählt wird, wie anstrengend und schrecklich Elternschaft ist. Zugleich werden die perfekten Eltern als Ideal und Pflicht dargestellt. Reiner Horror. Es gibt keine perfekten Eltern. Man kann das nicht studieren. Alle Eltern machen verheerende Fehler. Aber die Kinder auch. Das ist Leben, ganz einfach. Wer nie von seinem Kind, seinem Enkel oder Urenkel mit voller Liebe und vollem Karacho zur Begrüßung angesprungen wurde, wird das nicht begreifen können.

In dem, was Sie mir schildern, spielen Männer, Väter, Großväter kaum eine Rolle. Wie hat sich deren Rolle verändert durch die Wende?

Da zeichnen sich gravierende Unterschiede ab. Und zwar nicht zwischen einst und jetzt, sondern zwischen Ost und West. In der DDR war Standard und vom Mann als selbstverständlich betrachtet, dass die Frau berufstätig war und dass sie, wenn sie ein Kind bekam, genauso wie der Mann nicht danach fragte, ob sie verheiratet ist oder nicht. Das ist in Ostdeutschland so geblieben, bis heute. Zu DDR-Zeiten wurden über fünfzig Prozent der Kinder nichtehelich geboren; ich verwende absichtlich nicht den abwertenden Begriff „unehelich“. In den Siebzigern lag dieser Wert im Westen bei etwa fünfzehn Prozent. Heute liegt er höher, aber nach wie vor ist der Anteil von Hausfrauen in den alten Bundesländern viel größer, schon bei Dreißigjährigen.

Warum?

Das hängt auch mit der sozialen Struktur, mit der Verteilung von Reichtum zusammen. Dass ein reicher Mann sich eine Frau heraussucht, sie als geliebte Partnerin und dann als Mutter achtet und sich, wenn sie ausgedient hat, ’ne neue, jüngere sucht, ist im Osten schon aus finanziellen Gründen kaum möglich. Da fehlt die Attraktion des Geldes.

Also ist Liebe auch eine politökonomische Frage?

Nicht nur eine Frage des Reichtums, sondern auch des sozialen Status und der Prominenz – und einer konservativen Tradition. Das Entscheidende aber ist, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern – was dazwischen liegt, lasse ich bei diesem Gespräch mal weg – in Ost und West gravierend voneinander unterscheidet. Das hängt mit der sozialen Struktur zusammen. Besitz, Stand, Herkunft – das waren im Osten keine Übergrößenordnungen.

Dazu gesellte sich die sexuelle Liberalisierung ab Ende der Sechziger, die die Lust und Liebe der Frau in andere Zusammenhänge stellte und die machtmännliche Dominanz überflüssig und abwegig machte. Die Frau ging selbstverständlich davon aus, dass sie mindestens gleichwertig sei, auch wenn das in der Praxis nicht immer so war. Hinzu kam, dass die DDR eine Gesellschaft war, deren Probleme und Herausforderungen besser gemeinsam, also als Paar, gemeistert werden konnten.

Es fällt auf, dass die Antiflüchtlingsbewegung männlich dominiert ist und in der Helferszene eher Frauen engagiert sind. Woran liegt das?

Das hat mit Selbstbewusstsein zu tun. Auf ein gestörtes Selbstwertgefühl, auf Minderwertigkeitsgefühle, auf Kränkungen reagieren Männer traditionell anders als Frauen. Wenn Männer schon früh dazu erzogen werden, dass sie stark sein, Sieger sein müssen, dass sie dafür gelobt werden, Härte zu zeigen, dann zählt in deren Selbst- und Weltbild nur der Sieger und nicht der Versager. Wird dieses Männlichkeitsbild angegriffen, wird ein Ausweg über Machtdemonstration gegenüber Schwächeren gesucht.

Bei den „Merkel muss weg!“-Brüllern im Bundestagswahlkampf 2017 war eine starke Emotionalität zu beobachten. Mitunter war unklar, ob sie vor Wut oder Hilflosigkeit schreien. Was geht in diesen Menschen vor?

Das würde ich gern erforschen – und hätte ich gern schon erforschen wollen, als Rechtsextremismus und rechte Gewalt in den Neunzigern gediehen. Aber solche Forschungen wurden in Sachsen abgelehnt. Ich denke, dass die von Ihnen erwähnten brutalen Verhaltensweisen mit Verlustängsten zusammenhängen. Man fürchtet, in einer unübersichtlichen Welt zu verlieren, was man hat. Ich sage es mal so: Neo­liberalismus erzeugt Wut, bewusst oder unbewusst. Wenn du in einem System lebst, in dem du als Mensch im Grunde nicht zählst – weil nur das Geld zählt, das du aber nicht hast –, fühlst du dich in deinem Menschsein beschädigt. Zu allen Zeiten sind solche Leute den Vereinfachern nachgerannt. Denn die sagen: Wir nehmen uns deiner an, du bist einer von uns. Wir werden deine Welt wieder ordnen.

Banale Frage: Haben Nazis schlechten Sex? Hat Rechtsradikalismus eine triebhafte Komponente?

Nein. Ich habe keine Befunde, die das bestätigen würden. Obwohl: Am äußersten Rand, von den Eiferern, von den Überideologischen und Machtbesessenen können die bösesten Gefühle gezüchtet werden und gelegentlich die Oberhand gewinnen. Doch meine Forschungen belegen herzerwärmend: Die meisten Menschen sind zärtlich, sie würden sterben ohne Zärtlichkeit. Der Mensch, auch der mit biografischen Brüchen, mit Aggressionen, hat die tiefe Sehnsucht nach Zuwendung, die tiefe Sehnsucht, anerkannt zu werden, die tiefe Sehnsucht, zärtlich berührt zu werden. Menschen sind in ihrer tiefsten Seele lieber gut als böse.

Woher rührt dann die schockierende Gefühllosigkeit gegenüber Geflüchteten, Ärmeren, Benachteiligten?

Das hat neben vielem anderen auch mit dem Zukunftsoptimismus zu tun. Der Grundgestus in der DDR war: Alles wird besser. Die Überzeugten sagten, wir kriegen das schon hin, es dauert eben noch. Der Optimismus heute ist eher ein nicht gestaltender: Hoffentlich bleibt alles so, wie es ist. Man befürchtet, dass es schlimmer wird. Das ist rückwärtsgewandt, weil es Rückgriffe bietet auf vieles, was eigentlich überwunden schien: patriarchale Verhältnisse, Ordnung, Polizei, Eingriffe des Staates in das Privatleben. Auf meinem Forschungsgebiet: Verbote über Verbote, was Geschlecht und Sexualität angeht. Das kann man in ganz Europa beobachten.

Sie haben von Zärtlichkeit gesprochen. Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker, lautet ein alter linker Slogan, der das Politische und das Persönliche verbindet. Kommt uns die Solidarität gerade abhanden?

Das ist ein Thema, das mich weit über mein Fachgebiet hinaus bewegt: die Entsolidarisierung. Es war kein Platz frei in der Herberge. Bittet – und euch wird nicht gegeben, klopfet an – und euch wird nicht aufgetan. Den sehr konservativen Kräften mag es ja recht sein, wenn die Bevölkerung all ihren Unmut auf das Fremde richtet. Aber es ist mir unbegreiflich, dass man bestimmte Menschen nicht mehr als einzelne Menschen wahrnimmt, sondern als Gruppe, als Flüchtlinge, als ein transmenschliches Etwas. Das ist eine Entdifferenzierung, die ins Inhumane geht, die an Grundsätzlichem rührt. Man muss jede Politik unterstützen, die auf Ausgleich und Gleichberechtigung abzielt und die nicht jeden Konflikt so zuspitzt, dass der gesellschaftliche Konsens zerstört wird. Man kann nur jedem gratulieren, der diesen Menschen in ihrer Not hilft, ich kenne viele, die das tun. Aber es wird erschwert.

Wo wäre denn das Verbindende, von dem Sie sprechen?

So wie man zwischen den Geschlechtern das Verbindende suchen muss und findet, muss man auch in einem Konflikt wie diesem das Verbindende suchen. Die Tatsache, dass die Empathie schwindet, dass die Solidarität schwindet, geht in die Richtung, dass Konflikte immer nur zugunsten von Gewalt und mit Gewalt zu lösen wären. Meinen Optimismus schöpfe ich daraus, dass Menschen es sich nicht nehmen lassen, den anderen als Mitmenschen, in seiner Ganzheit, nicht in einem herauspräparierten Stückchen zu sehen und anzunehmen. Dass man einander in die strahlenden Augen schaut und sagt: Ich bin gern mit dir zusammen.

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