Gastkommentar Sanktionen und Hartz IV: Sozialstaat ist kein Freibier

Ohne das Prinzip von Leistung und Gegenleistung geht es nicht. Das Problem sind nicht unwillige Arbeitslose, es mangelt an Unterstützung.

Drei Männer mit orangen Westen schaufeln Schnee

Nehmen und geben: Arbeitskräfte der Bundesagentur für Arbeit in Leipzig räumen Schnee Foto: dpa

Wer einige Jahre in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt gelebt hat, kennt das Entstehen von Sanktionsregimen – ganz ohne Staat und Hartz IV. Mitgenossen, die sich hartnäckig weigerten, den Kühlschrank zu befüllen, das Klo zu putzen oder den Müll runterzutragen, waren früher oder später so unbeliebt, dass der Rest sie loswerden wollte.

Selbst unter Menschen, die zu praktischer Solidarität wild entschlossen sind, hat das Solidarprinzip nur Bestand, wenn Leistung und Gegenleistung einigermaßen im Einklang stehen. Es sind auch Erfahrungen wie diese, die mich zu der Ansicht gebracht haben, dass die Möglichkeit einer Sanktionierung als letztes Mittel nicht nur praktisch, sondern auch notwendig ist. Deshalb müssen diejenigen, die Sanktionen abschaffen wollen, auch einen Ersatz finden, um das Solidarprinzip abzusichern.

Nun ist die Grundsicherung für Arbeitslose keine linke WG. Ein Sozialstaat, dessen Grundlage die unantastbare Menschenwürde ist, muss das Existenzminimum sicherstellen, ohne irgendeine Form von Folgsamkeit zu erzwingen. In einem bahnbrechenden Urteil stellte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1967 fest: „Es ist nicht Aufgabe des Staates, seine Bürger durch Zwangsmaßnahmen wie Pflichtarbeit (…) zu erziehen und zu bessern.“ Damit beendete das Gericht die damals noch existierende Praxis, sogenannte Landstreicher in Arbeitshäusern regelrecht zu internieren.

Der Großteil der deutschen Sozialgesetzgebung der vergangenen 50 Jahre vollzog den Wandel von bevormundenden Fürsorgesystemen hin zu einer menschenrechtlich begründeten Teilhabeorientierung: Das Kinder- und Jugendhilfegesetz oder das Gesetz zu Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen bezeichnen ausdrücklich die Entfaltung der Persönlichkeit und Selbstbestimmung als oberstes Ziel.

Unterstützung oder Barmherzigkeit?

Die Grundsicherung für Arbeitssuchende, die 2003 von einer übergroßen Parlamentsmehrheit (und gegen meine eigene Stimme) verabschiedet wurde und die bis heute als „Hartz IV“ bekannt ist, stellt demgegenüber einen klaren Rückschritt dar. Als Kristallisationspunkt der Kritik und als Symbol für die Rückkehr obrigkeitsstaatlichen Handelns lassen sich eindeutig die Sanktionen ausmachen. Ihre Abschaffung, die auch meine Partei Bündnis 90/Die Grünen beschlossen hat, gilt als Schlüssel dafür, den Menschen aus dem Objektstatus herauszuführen und ihn ein eigenständig handelndes, freies Subjekt sein zu lassen.

Doch weder der Verweis auf die progressiven Sozialgesetze noch die Forderung nach Abschaffung der Sanktionen sollten den Blick darauf verstellen, dass (fast) jedes kollektive System sozialer Sicherung nicht ohne das Prinzip von Leistung und Gegenleistung auskommt. Dass Trittbrettfahrerverhalten die Solidarität zersetzt, ist eine an­thropologische Konstante – von der steinzeitlichen Sippe bis zur linken WG von heute.

Viele Jobcenter wissen inzwischen: Ein kooperatives Verhältnis ist besser als eine Angstbeziehung

Darum kommen auch die GegnerInnen von Sanktionen nicht herum. Festgeschriebene Rechtsansprüche auf Unterstützung werden nur dann allgemein akzeptiert, wenn der Kern des Solidarprinzips gewahrt bleibt. Unterstützung ohne Gegenleistung bleibt Barmherzigkeit. Diese ist keineswegs zu verachten, kann aber nicht die Basis des modernen Sozialstaats sein.

Förderung des Mitwirkens

Wie ist also ohne Sanktionen eine aktive Arbeitssuche oder Arbeitsaufnahme zu erreichen? Lapidar verweisen die BefürworterInnen einer „Bedingungslosigkeit“ auf Anreize wie bessere Zuverdienstmöglichkeiten. Bei einigen ALG2-Beziehenden mag das reichen. Doch an den Bedürfnissen und Möglichkeiten der wirklich langjährig Erwerbslosen geht dies vorbei: Menschen, die schon lange nicht mehr Selbstwirksamkeit und materielle Unabhängigkeit erlebt haben, brauchen vor allem die Chance auf Handlungsfähigkeit durch echte Mitwirkung und massive Unterstützung.

Die Ermöglichung und Förderung des Mitwirkens ist bereits heute in den fortschrittlicheren Sozialgesetzen ein Grundprinzip, damit „Hilfebedürftige“ zu Ko-ProduzentInnen sozialer Leistungen werden. Die Transferleistung ist dabei eher nachrangig – wichtiger ist das Empowerment. Leider haben der Begriff und das Verständnis von Mitwirkung durch die Praxis mancher Sozialbehörde gelitten.

Inzwischen hat sich jedoch in vielen Jobcentern die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein kooperatives Verhältnis bessere Ergebnisse bringt als eine Angstbeziehung. Dies wird in der Debatte um Sanktionen viel zu selten anerkannt. Wer meint, die Jobcenter seien samt und sonders ein dunkles Reich der Demütigung und Willkür, tut den vielen engagierten MitarbeiterInnen dort Unrecht, denen ihre KlientInnen durchaus wichtig sind und die eigentlich nur einvernehmliche Eingliederungsvereinbarungen wollen.

Gegenleistung für die Solidarität der anderen

Was dieser große Teil der FallmanagerInnen beklagt, sind weniger unwillige Arbeitslose als vielmehr die mangelnden Möglichkeiten, umfassende sowie langfristige Unterstützung anbieten zu können. Also zum Beispiel eine mehrjährige Ausbildung mitsamt ordentlichen Unterhaltszahlungen statt eines lauen Bewerbungstrainings. Wenn wir davon ausgehen, dass kein Mensch als passiver Klotz geboren ist, bedeutet die echte Ermöglichung von Chancen auch die Möglichkeit zur Erbringung der Gegenleistung für die Solidarität der vielen anderen.

Denn eines darf bei einer Abschaffung von Sanktionen nicht passieren: Dass der Sozialstaat mangels Akzeptanz in eine Legitimitätskrise rutscht. Deshalb bleibt es im Übrigen auch von zentraler Bedeutung, am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit und an einer Bedarfsprüfung festzuhalten.

Neben dem Solidarprinzip ist dies der zweite Grundpfeiler für ein System der Existenzsicherung. Wer aber das Sozialstaatsprinzip mit dem Ausschank von Freibier verwechselt, bewirkt genau das Gegenteil dessen, was eigentlich Absicht ist: Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird geschwächt statt gestärkt!

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ist seit 2002 Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen. Der Dortmunder ist rentenpolitischer Sprecher und Obmann seiner Fraktion im Ausschuss für Arbeit und Soziales.

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