Historikerin über vergesellschaftete Nachtruhe: „Wir schlafen nicht zum Vergnügen“

Der Schlaf erscheint uns heute äußerst privat, sagt die Historikerin Hannah Ahlheim – aber Ruhe und Erholung sind gesellschaftliche Ressourcen.

Eine Frau schläft im Bett, neben ihr auf dem Nachttischränkchen steht ein Wecker.

Schlafen die Menschen heute schlechter? Denken sie nur mehr darüber nach? Und was hat das mit Wirtschaft, Arbeitswelt und Kriegführung zu tun? Foto: dpa

taz: Frau Ahlheim, „wer schläft, sündigt nicht“, das glaubt der Volksmund. Aber stimmt es auch?

Hannah Ahlheim: Da kommt es darauf an, was man als Sünde begreift. Erst mal stimmt es insofern, als man im Schlaf ja nichts tut. Das ist auch das Interessante: Was ist das für eine Geschichte von Leuten, die nichts tun, die nicht handeln, keine Verbrechen begehen – aber auch nichts produzieren, beispielsweise, und auch nur wenig Spuren hinterlassen? Es gibt dann aber auch lange Debatten, dass Fantasien zu haben durchaus als Sünde gesehen werden kann: all das, was in unseren Träumen hochkommt, vielleicht auch aus den tiefen Schichten unserer Psyche, von denen wir lieber nichts wissen wollen; Ängste, aber auch Hassfantasien oder sexuelle Fantasien: Auch das passiert im Schlaf, oder vielmehr: gerade im Schlaf; etwas sehr Waches, wenn wir an unsere Träume denken. Und dann muss man vielleicht auch noch fragen, wie sehr man den Schlaf eigentlich vom Bett trennen kann – und das ist natürlich ein Ort der Sünde; ein Ort, den man in der Gesellschaft immer wieder zu ordnen versucht hat, und zugleich einer der Fantasien, wo man sich auch mal gehen lassen kann. Wo man privat, intim ist miteinander.

Viel privater als das Bett geht es ja kaum.

Das ist tatsächlich ein Kennzeichen von Schlaf im 20. Jahrhundert und in der modernen Gesellschaft: Dass er zu etwas Privatem geworden ist, gemacht worden ist. Das Bett ist der intimste Bereich in den Wohnungen, den wir heute kennen. Auch Träume sind etwas unglaublich Privates und Intimes. Das ist also heute Kern von Privatheit. Gleichzeitig ist aber auch interessant, dass diese Privatheit immer mehr in den Blick der Wissenschaft geraten ist: Man hat angefangen, Träume zu sezieren, zu erzählen und zu analysieren. Man vermisst aber auch den Schlaf der Menschen, mit unterschiedlichsten Methoden; man zeichnet so etwas auf wie eine Normschlafkurve, die ist dann öffentlich und allgemeingültig. Und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert erkundet dann die Kunst die Privatheit erneut mit einem forschenden Blick, mit einem ein wenig voyeuristischen Blick: Sophie Calle etwa hat Menschen eingeladen, bei sich im Bett zu schlafen, und die hat sie dann währenddessen fotografiert. Um den Blick in diese Intimsphäre zu thematisieren, auch diese Schranke, die aufgebaut wird zwischen dem angeblich Privaten und dem scheinbar Nicht-Privaten. Da kommt die nächste Idee rein.

geb. 1978, ist Professorin für Zeitgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihr Buch "Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert. Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit" ist 2018 im Göttinger Wallstein-Verlag erschienen (695 S., 39 Euro). 2014 gab sie den Sammelband "Kontrollgewinn – Kontrollverlust. Die Geschichte des Schlafs in der Moderne" heraus (Campus, 231 S., 34,90 Euro).

Nämlich?

Der Schlaf erscheint uns so privat, ist aber eine gesellschaftliche Ressource, die genutzt wird und einberechnet: Wir müssen schlafen, um arbeiten zu können, um fit zu sein für die Arbeit. Und das wird uns ganz klar so beigebracht: Wir schlafen nicht zum Vergnügen, sondern um etwas leisten zu können. Und das ist überhaupt nicht mehr privat.

Schlaf begegnet uns heute vor allem im medizinischen Zusammenhang. Da geht es meist darum, wie er sich verbessern lasse; er scheint also irgendwie schlechter geworden zu sein, in der Krise. Ist die „Geschichte des Schlafs in der Moderne“ die eines Verlustes?

Schön, gesund und produktiv? Der menschliche Körper als Thema der Zeitgeschichte: Darum geht es in der kleinen Veranstaltungsreihe in Hamburg, deren Auftakt ein Vortrag von Hannah Ahlheim bildet:

Do, 1.11..: "Ruhender Körper, träumende Seele. Eine Geschichte des Schlafs im 20. Jahrhundert", Hannah Ahlheim (Gießen)

15. 11.: "Seuchenträger, bedrohte Kinder- und geschützte 'Volkskörper'. Eine Geschichte des Impfens von 1870 bis heute", Malte Thießen (Münster)

29. 11.: "Beef, Bohnen, Brühe. Kalorienzählen und soziale Ordnung in den USA, 1880–1930", Nina Mackert (Erfurt)

24. 1. 2019: "Doping als Konstruktion. Eine Kulturgeschichte der Anti-Doping-Politik im 20. Jahrhundert", Marcel Reinold (Münster)

7. 2. 2019: "Vom arbeitenden zum konsumierenden Körper? Ein zeitgeschichtliches Narrativ auf dem Prüfstand", Peter-Paul Bänziger (Basel)

jeweils 18.30 Uhr, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), Beim Schlump 83. Eintritt frei

Das ist eine sehr komplizierte Geschichte. In der Wahrnehmung stimmt das. Die Angst vor dem Verlust des Schlafs, damit auch von Natürlichkeit und Ruhe und einem Ort, an den man sich zurück ziehen kann: Diese Idee verbreitet sich im Lauf des 20. Jahrhunderts. Die Angst gibt es schon im späten 19. Jahrhundert, also einen Diskurs um Schlaflosigkeit. In den 1920er-Jahren gibt es dann die Idee, die gesamte Gesellschaft sei schlaflos, und das steigert sich. Gleichzeitig bin ich mir aber überhaupt nicht sicher, ob die Leute tatsächlich schlechter oder weniger schlafen. Es ist also möglicherweise vor allem ein Phänomen einer steigenden Aufmerksamkeit.

Warum steigt die?

Möglicherweise mit dem Anspruch der Gesellschaft, dass man nun mal besser schlafen soll: Je mehr wir optimieren müssen, worin wir stecken, und je mehr wir auch darüber wissen, je mehr Details uns die Medizin zuspielt, wie der Schlaf aussehen sollte, desto größer wird möglicherweise die Angst, dem nicht zu entsprechen, das nicht mehr leisten zu können. Es gibt einen Historiker, Roger Ekirch, der sagt: Wir hatten lange einen Zwei-Phasen-Schlaf, früher, vor der Industrialisierung …

… die uns dann dieses Schlaf-Ideal bescherte: acht Stunden am Stück …

… ja, genau, diese Einteilung: acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Schlaf. Das passt ja auch ganz toll. Und Ekirch versucht den zweiphasigen Schlaf tatsächlich auch wieder zu finden, zusammen mit Chronobiologen; also auch für die heutige Zeit zu sagen: Ihr schlaft nicht schlecht, nur weil ihr nachts aufwacht – möglicherweise ist das der eigentlich richtige Schlaf. Spannend, wie da bei einem Historiker – der ja eigentlich davon ausgeht, dass es Natürliches gar nicht gibt, dass alles kulturell gebaut und sozial gelernt ist – plötzlich so eine Fantasie durchkommt: Gibt es nicht etwas, das uns Ruhe verschaffen kann, einen richtigen, „ursprünglichen“ Schlaf? Diese Verlusterzählung ist immer verbunden mit dieser Suchbewegung: nach dem Eigentlichen, dem Natürlichen, wo man wieder hin will. Das ist einerseits schwer zu finden, andererseits gibt es das ja – zumindest gefühlt.

Wenn es denn so ist, wie Ekirch schreibt, dass also der Acht-Stunden-Arbeitstag die entsprechende Nacht nach sich zog …

… ich wäre auf alle Fälle mit dabei, zu sagen: Nichts bestimmt so sehr unseren Schlaf wie das Arbeitszeitregime. Arbeitszeit ist das Entscheidende, das uns erlaubt zu schlafen oder nicht; und das auch sehr schnell klar macht, wie unterschiedlich die verschiedenen Positionen sind: Unabhängig davon, wie man individuell gerne schlafen möchte, hat man in bestimmten Jobs Möglichkeiten, seinen Schlaf einzuteilen, in anderen nicht. Arbeits- und Schlafenszeit hängen also ganz klar zusammen – aber diese Acht-Stunden-Idee ist kaum je real gewesen, weder für den Schlaf noch für die Freizeit noch für die Arbeit.

Was wird denn daraus – und damit aus unseren Ideen von „normalem“ Schlaf – wo doch das industrielle Zeitalter jetzt vorbei ist, wie es so gerne heißt?

Die Wissenschaft hat sich davon schon lange verabschiedet. Die Schlafforschung sagt seit den 1950er-Jahren, dass jeder Mensch individuell schläft. Ein Vertreter hat es schon damals mit Schuhen verglichen: Da tragen wir ja auch nicht alle dieselbe Mittelgröße, da brauchen wir klein oder groß. Das hat auch die Chronobiologie recht schnell entdeckt: Den einen Standard gibt es nicht. In den 1920er-Jahren kommt auch die Idee auf, dass der Mensch, weil er ja kein Tier ist, seinen Schlaf selbst bestimmen kann – und sagen: Ich schlafe tagsüber und kann deshalb nachts arbeiten. Daran knabbert die Forschung auch seitdem herum: Wie schädlich ist es eigentlich, wenn wir nachts arbeiten?

Wovon aber immer auch irgendwer profitiert.

Vorneweg ist dabei das Militär, das einen immer wachen Soldaten braucht. Den Schlaf hinter sich zu lassen, das hat die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg versucht, zum Beispiel durch Aufputschmittel. Die USA haben dagegen erkannt: Das geht nicht, oder nur zu einem hohen Preis. Die entwickeln dann die Fantasie, dass man ausreichend Schlaf sicherstellen muss. Und beginnen zu überlegen: Wie schafft man das, auch in Extremsituationen, sicherzustellen, dass jeder so viel schläft, dass er noch gut arbeiten kann?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.