Ethnologe über Schüler in Neukölln: „Sie reagieren mit Wut“

Stefan Wellgraf hat ein Jahr lang SchülerInnen einer Problemschule begleitet. Er beschreibt, wie sie abgewertet, ausgegrenzt und verachtet werden.

Gebäude der Rütli-Schule

Einst Inbegriff einer Neukölner Problemschule: die Rütli-Schule Foto: dpa

taz: Herr Wellgraf, Sie beschäftigen sich in Ihrem neuen Buch damit, wie Neuköllner SchülerInnen an einer problembelasteten Schule Erfahrungen von Ausgrenzung verarbeiten. Warum dieser Fokus auf die Gefühle der SchülerInnen?

Stefan Wellgraf: Ungleichheit ist in unseren Köpfen ja meist eher eine abstrakte Kategorie. Sie wird aber im Alltag vor allem dadurch sichtbar, wie wir in konkreten Situationen emotional reagieren: die vielen kleinen Höher- und Minderwertigkeiten, die wir im Umgang miteinander herstellen, sind affektiv aufgeladen und rufen unterschiedlichen Emotionen hervor. Insofern gibt es auch eine sehr politische Lesart von Gefühlen.

Sie haben vor einigen Jahren den Abschlussjahrgang einer als problematisch geltenden ehemaligen Neuköllner Hauptschule – inzwischen eine Integrierte Sekundarschule – ein Schuljahr lang begleitet. Wo passierte da die Ausgrenzung?

Diese SchülerInnen werden auf dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt. Sie werden aber auch auf einer symbolischen Ebene abgewertet, indem sie als weniger intelligent, latent gewalttätig und moralisch verwahrlost gelten. Das ist einerseits eine materielle und andererseits eine kulturelle Ausgrenzung, die jeweils aus der Gesellschaft kommt. Ich habe versucht zu beschreiben: Wie äußert sich das im schulischen Alltag?

Geben Sie mal ein Beispiel.

Die Notengebung war ein Symptom der gesellschaftlichen Verachtung von HauptschülerInnen. Die häufigste Note, die an dieser Schule vergeben wurde, war eine Sechs – auch wenn das oft nicht widerspiegelte, was diese Jugendlichen wirklich konnten. Es gab einen Lehrer, der regelmäßig Monologe über die Dummheit des Islams gehalten hat. Eine andere Lehrerin hat behauptet, dass Kinder aus Verwandtenehen behindert wären …

ist Kulturwissenschaftler an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

die Reproduktion eines antiislamischen Klischees …

Auch für Fehlzeiten gab es häufig eine Sechs: Von den 50 SchülerInnen waren meist nur etwa 30 anwesend. Die Strafsechsen haben sich dann entsprechend schnell summiert – diese Strafbenotung war auch eine Ohnmachtsgeste der LehrerInnen. Die daraus resultierenden Zeugnisse – das ging bis zu einem Notendurchschnitt von 5,9 – kommen einem Direktticket zum Jobcenter gleich.

Und die SchülerInnen reagierten darauf wie?

Einige mit Scham, viele aber auch mit Wut. Eine Lehrerin fragte, warum sie am 1. Mai keine Steine schmeißen. Aber mit dieser Klassenkampf-Rhetorik konnten die Jugendlichen nicht viel anfangen. Wut artikulierte sich eher auf einer persönlichen Ebene und richtete sich gegen einzelne PädagogInnen. Zwischenzeitlich gab es einen Unterrichtsboykott gegen die Lehrerin mit den Sprüchen über Verwandtenehen. Auch gegen als überhart wahrgenommene Sanktionen richtete sich viel Wut, während jedoch gleichzeitig das autoritäre System der Schule nicht grundsätzlich in Frage gestellt und sich auch untereinander hart angegangen wurde.

Wie äußerte sich dies?

„Aber Wut hat oft auch etwas Verzweifeltes“

Widerstände gab es beispielsweise gegen die Roma, die damals aus den Sonderschulen kamen. Auch wer zu ambitioniert war, konnte schnell gemobbt werden: Ein Mädchen kam von der Realschule, sie war offen bildungsorientiert und stand somit im Gegensatz zur anti-schulischen Stimmung dort. Sie wurde ausgegrenzt, und auch die LehrerInnen sind ihr teilweise noch in den Rücken gefallen. Einmal sollten sich die Schüler selbst benoten. Der Lehrer hatte dem Mädchen zunächst eine deutliche bessere Note gegeben als ihre MitschülerInnen. Trotzdem hat der Lehrer dann die schlechtere Note der Klasse übernommen, eine Fünf statt eine Drei.

Warum hat er so reagiert?

Ich denke, aus pädagogischem Opportunismus. Er wollte sich bei der Klasse beliebt machen. Für das Mädchen war das eine deprimierende Erfahrung. Im Verlauf des Schuljahres kam sie dann wegen gesundheitlicher Probleme immer seltener.

Wut ist eine Form, sich gegen Ausgrenzung zu wehren. Ist sie hilfreich?

Das ist sehr ambivalent. Einerseits ist wütendes Aufbegehren eine Form der Selbstermächtigung. Aber Wut hat oft auch etwas Verzweifeltes, da man sich an Dingen und Verhältnissen abarbeitet, die man kaum ändern kann. Hilfreicher war da manchmal ein ironischer oder subversiver Umgang mit Stigmatisierung.

Was meinen Sie?

Die Schüler zeigten, dass sie witzig und wortgewandt sind, komplexe Charaktere, die gewisse Mechanismen intuitiv durchschauen und sich nicht einfach unterwerfen. Dadurch vermieden sie die Opferrolle. Aber natürlich hat auch Ironie seine Grenzen und mitunter wurde auch sie hart sanktioniert.

Dann sind die LehrerInnen schuld, die nichts aus den klugen SchülerInnen machen?

Nein, schuld sind wir alle, die wir ein hierarchisierendes Schulsystem mittragen und primär auf eine vorteilhafte Positionierung darin fokussiert sind. Das dreigliedrige Schulsystem, das es auch in Berlin lange Zeit gab, spiegelt ja das Klassensystem recht gut wider: Unterklasse, Mittelklasse, Oberklasse. Nehmen Sie die Tatsache, dass bildungsorientierte Eltern ihre Kinder nicht auf Schulen mit einem hohen Migrantenanteil schicken, das wird ja immer wieder breit diskutiert.

Was ist also zu tun?

Na ja, eigentlich ging die Berliner Schulreform vor einigen Jahren …

2010 wurden die Haupt- und Realschulen in Berlin zu Integrierten Sekundarschulen fusioniert …

… das ging schon in die richtige Richtung. Aber die Linke hätte sich viel mehr für die Abschaffung des Gymnasiums einsetzen müssen. Und außerdem war diese Reform eine verschleierte Sparmaßnahme: Der Betreuungsschlüssel an den neuen Sekundarschulen wurde deutlich schlechter.

Da versucht man aber auch längst gegenzusteuern: zum Beispiel mit dem Bonus-Programm, das Schulen in schwieriger Lage unter anderem mit Sozialarbeitern unterstützt. Allerdings bleibt die Quote der SchulabbrecherInnen seit Jahren gleich.

Das Bonus-Programm ist ein Tropfen auf den heißen Stein und gleicht nicht einmal den überproportional hohen Krankheitsstand aus, vor allem die vielen Burn-outs von LehrerInnen an diesen Schulen

Was wurde aus den SchülerInnen, die Sie begleitet haben?

Die meisten haben den Hauptschulabschluss, einige wenige den Mittleren Schulabschluss gemacht. Viele sind ausgestiegen, haben Familien gegründet oder in Restaurants von Verwandten angefangen.

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