Freiheit ohne Gesetz

„Baby, I’m an Anarchist“: Die Wanderausstellung der Grafikerin Nadine Scherer im Haus der Jugend Zehlendorf will an anarchistische Ideen heranführen

Von Robert Mießner

Wo sind sie hin, die Anarchisten? In Prenzlauer Berg und Charlottenburg, Friedrichshain und Kreuzberg, ihren angestammten Berliner Siedlungsgebieten, machen sie sich rar. Zu ihren jüngsten Hochzeiten, in den Achtzigern und frühen Neunzigern, hätte kaum jemand die Anarchisten im gutbürgerlichen Zehlendorf vermutet. Doch genau dort, zwischen gestutzten Gärten und vornehmen Villen, haben sie jetzt für einen Monat ihre Zelte aufgeschlagen.

„Baby, I’m an Anarchist“ heißt die Wanderausstellung der Grafikerin Nadine Scherer, zu sehen im Haus der Jugend Zehlendorf, dessen Garten übrigens einen etwas weniger getrimmten Eindruck macht als derjenige der Nachbarn. Die Ausstellung ist als Einführung in anarchistische Ideen konzipiert. An den Anfang hat Scherer eine Schautafel gesetzt; auf ihr zitiert sie nicht etwa die Gründungsväter (ein Wort, das sich hier eigentlich verbietet) des Anarchismus, Michail Bakunin oder Pierre-­Joseph Proudhon, sondern den Aufklärer Immanuel Kant: „Viele Menschen haben keine Idee von dem, was sie wollen, daher verfahren sie nach Instinct und Autorität.“ Kant übrigens beschrieb „Anarchie“ als „Freiheit ohne Gesetz und Gewalt“. Scherers Ausstellung legt den Schluss nahe, dass sie dem zustimmen würde.

Wie wird man Anarchist, Verfechter einer Sache, die landläufig für Unordnung und Chaos steht? Scherer hat dazu Interviews geführt und präsentiert sie auf Tafeln und an Hörstationen. So berichtet Rudolf Mühland, Mitglied der einzigen in Deutschland existierenden anarchistischen Gewerkschaft, FAU (Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union), davon, wie er als junger, linksbewegter Mensch eine Veranstaltung der MLPD (Marxistisch-Lenininistische Partei Deutschlands) in der Düsseldorfer Philipshalle besuchte. Der Redner wurde von regelmäßigen, unisono skandierten „Hoch, hoch, hoch“-Rufen unterbrochen, zu denen sich die entschlossen Jubelnden wie choreografiert aus ihren Sitzen erhoben.

Dass bei Rühland der revolutionäre Funke nicht so recht überspringen wollte, blieb nicht unbemerkt. Einer der MLPDler sah in ihm ein „prä-, proto- oder postfaschistisches Element“ und sagte das auch deutlich, bis das entscheidende Wort fiel: „Du Anarchist.“ Rudolf Mühland – das Pseudonym setzt sich aus den Namen dreier deutscher anarchistischer Theoretiker zusammen – nahm die Schmähung als Kompliment und Auftrag an.

Wie bleibt man Anarchist, Verfechter einer so sympathischen wie problematischen Sache? Die Dissens-Seligkeit anarchistischer Gruppen ist legendär und, das nebenbei, nicht weit entfernt von der anderer linker Kollektive. Wie viele Mitglieder konstituieren eigentlich ein Kollektiv? Im Spanien der dreißiger Jahre wurde der Anarchismus tatsächlich zu einer Massenbewegung. Natürlich fehlt der Spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 in der Ausstellung nicht, der Kampf zwischen der demokratisch gewählten Regierung der Zweiten Spanischen Republik und den rechten Putschisten unter General Franco.

Die Rolle, die die Anarchisten dabei spielten, wird zumeist als freiheitliche geschildert. In den Memoiren des spanisch-mexikanischen Filmemachers Luis Buñuel, eines mindestens anarchischen Künstlers, liest sich die anarchistische Praxis als zuvörderst antiklerikales Schützenfest. Eine Desillusionierung, die die Ausstellung ihren Besuchern erspart. Doch lässt sie den Berliner Verleger Jochen Schmück zu Wort kommen, der deutlich sagt, dass er bei den erklärten Anarchisten mittlerweile wenig anarchistisches Potenzial sieht und ihn eher die „Frage der gelebten Anarchie“ umtreibt. Die wartet nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Haus der Jugend Zehlendorf. Bis 8. November