Essay Diskussion um Integration: Linke in der Diskursfalle

Viele Linke scheuen die Debatte über Probleme mit der Integration. Sie schaden damit der Demokratie und dem Kampf gegen Rechtsextremismus.

Illustration einer Nonne und eines Nazis in der Bahn

Nazi oder Heiliger? Dazwischen gibt es Abstufungen Illustration: Eléonore Roedel

Opfer und Täter, moralisch und unmoralisch, christlich und nichtchristlich, gut und böse – entlang dieser Dichotomie verläuft die aktuelle Debatte über Rechtsruck, Migration und Integration. Die Emotionen kochen hoch, Vernunft steht im Abseits. Die polarisierten Positionen entwerfen entweder ein Land, das kurz vor der Übernahme durch Muslime steht, die per se als böse anzusehen seien.

Oder eines, das sich kurz vor dem Versinken in den braunen Schlamm der Vergangenheit befindet. Beide Positionen sind falsch bis absurd. Und sie sind nicht produktiv. Wo ist die demokratische Streitkultur, die differenzierte, die ergebnisorientierte Debatte geblieben?

Der polarisierte Streit tappt in eine Falle. Die einen wollen beweisen, dass sie aus der Geschichte gelernt haben, dass sie definitiv keine Rassisten sind, keine Nazis mehr und moralisch auf der richtigen Seite. Sie wollen sich reinwaschen von der NS-Vergangenheit, die fast alle deutschen Familien belastet.

Ihre Botschaft: Stünden wir heute vor den gleichen Entscheidungen wie unsere Vorfahren – mitmachen, wegducken oder Widerstand leisten –, würden wir uns für die richtige Option entscheiden, quasi als „Deutsche 2.0“. Die anderen wiederum wollen so tun, als hätte es die Vergangenheit nicht gegeben oder als wäre sie nicht so schlimm gewesen, „nur ein Vogelschiss“.

Die Diskursfalle schnappt zu

In Chemnitz ist Schreckliches passiert. Zuerst die Tötung eines Menschen, mutmaßlich durch Asylbewerber. Und danach haben sich rechte Kräfte solidarisiert, sie sind mit offenem Visier marschiert, ungehemmt: AfD, Pegida und andere rechtsradikale Gruppen im Schulterschluss. Da waren sie nicht nur virtuell im Netz aktiv, sondern analog und real, lautstark und zu Tausenden. Zum Glück hatten viele den Impuls, sich dagegenzustellen!

Doch zugleich schnappt hier schnell die Diskursfalle zu. Zweifellos ist es richtig, sich schützend vor die Ziele rechter Angriffe zu stellen: vor Asylbewerber, Migranten, Muslime. Unschuldige müssen mit allen Mitteln verteidigt werden, auch und gerade von der Zivilgesellschaft. Doch Demokraten sollten auch nicht blind, taub und stumm sein im Angesicht veritabler Herausforderungen, Konflikte und Probleme, die mit Einwanderung und Integration einhergehen – und die ja keineswegs neu sind.

Muslim zu sein, Flüchtling zu sein ist weder irgendein Makel noch ein Grund dafür, besonders unter Schutz gestellt und von rechtlichen Regelungen ausgenommen zu werden.

Die Communitys der Muslime in Deutschland und Europa bestehen aus vielen Gruppen und Untergruppen, moderaten, extremen religiösen Strömungen oder auch areligiösen und agnostischen Gruppen. Dort, wo religiöser Fanatismus existiert und sich seit Jahren ausbreitet, sind diese Gruppen nicht freundlich, friedlich und kompatibel mit der Demokratie.

Demokratie muss hellwach sein

Daran ändert leider das Ausblenden der Fakten gar nichts – und erst recht nicht das Hetzen der Rechts­extremen, das Fundamentalismus nur bestärkt. Diesen Tatsachen muss eine demokratische Gesellschaft hellwach begegnen.

Dabei sollte uns klar sein, dass es kein Zeichen von gelungener Integration ist, wenn Frauen dafür kämpfen, auch mit Kopftuch als Lehrerin, Richterin oder Polizistin arbeiten zu dürfen. Für die Neutralität unseres Staates zu sein ist nicht islamfeindlich, nicht rechts, sondern demokratisch legitim.

Ebenso ist es absolut in Ordnung, die Flüchtlingspolitik der aktuellen Regierung, die Nichtabschiebung Ausreisepflichtiger zu kritisieren oder für stärkere rechtsstaatliche Konsequenz einzustehen – sachlich und differenziert. Damit stellt man sich nicht automatisch auf eine Ebene mit AfD und Pegida. Auch auf die Bringschuld der Migranten bei der Integration zu pochen ist nicht rassistisch, sondern realistisch.

Es ist für Demokratien wichtig – sogar überlebenswichtig! –, sich so direkt wie irgend möglich gegen Rechtsextremismus zu positionieren. Doch das darf nicht bedeuten, sich in Relativierungen zu verlieren. Besonders jene, die sich in der Mitte der Gesellschaft sozialdemokratisch bis links einordnen, tun sich allerdings schwer, sich mit der zum Schutz der Demokratie gebotenen Deutlichkeit ganz genauso gegen Islamismus und gewalttätige, patriarchale Strukturen zu positionieren wie gegen Rechtsextremismus.

Das Grundgesetz gilt für alle

Nein, ein verschleiertes Kind in der Grundschule ist nie und nirgends Ausdruck von Emanzipation oder Religionsfreiheit. Ja, die Schulpflicht enthält auch Sexualkunde und Schwimmunterricht für Mädchen wie Jungen. Und ja, körperliche Gewalt in der Erziehung ist verboten, genau wie Gewalt gegen Ehefrauen.

Nein, das Unterbinden der persönlichen und sexuellen Selbstentfaltung ist keine schützenswerte kulturelle Eigenheit, sondern widerspricht unserem Grundgesetz. Antisemitismus ist keine hinzunehmende „orientalische Folklore“, die mit Nahostpolitik zu entschuldigen ist, sondern eine gefährliche, menschenfeindliche Haltung.

Nein, ein verschleiertes Kind in der Grundschule ist nie und nirgends Ausdruck von Emanzipation oder Religionsfreiheit

Das Grundgesetz gilt für alle – für Muslime ebenso wie für Neonazis. „Verständnis“ für Anti­semitismus sollte es weder im Fall der einen noch im Fall der anderen geben. Oder wollen Linke wirklich in Kauf nehmen, dass Juden von Muslimen attackiert, kleine Mädchen durch Kopf­tücher ­sexualisiert und Islamkritiker bedroht ­werden, nur um rechte Kritik „nicht zu bedienen“? Das wäre ein fataler Kollateralschaden, ein Opfer auf dem Altar falsch aufgefasster „Korrektheit“.

­Sollen Alice Weidel und Alexander Gauland uns diktieren, dass wir Frauen und Kinder nicht vom Grundgesetz schützen lassen? Das wäre reine Idiotie. Denn weder der AfD noch Pegida geht es jemals um das Kindeswohl und die Menschenrechte der Mitglieder muslimischer Communitys. Aber dem demokratischen Teil der Gesellschaft muss es darum gehen. Immer. Egal ob Kinder oder Frauen oder Männer arabischer, deutscher, russischer oder türkischer Herkunft sind.

Es geht darum, das Richtige zu tun

Es kommt darauf an, die Augen nicht zu verschließen vor dem, was real in Familien und Gemeinschaften vor sich geht. Es geht hier nicht um das schöne Gefühl, zu den Guten zu gehören, sondern darum, das Richtige zu tun.

Mich schaudert es, wenn ich höre, wie Nachbarinnen und Nachbarn, Helferinnen und Helfer Formulierungen verwenden wie „mein syrischer Flüchtling“ oder „mein Türke aus dem Dönerladen“. Sie machen sich nicht bewusst, wie sie hier jegliche Begegnung auf Augenhöhe ausschließen und wie wenig echte Gleichberechtigung solche Bezeichnungen beinhalten.

Übrigens sind es oft diese Art von „Guten“, die es eben noch hip fanden, mitten im Multikulti zu leben, aber ganz schnell nach Berlin-Zehlendorf oder -Prenzlauer Berg umziehen, damit ihre Charlotte oder ihr Leonhard nicht mit lauter Fatimas oder Hassans in Kita oder Grundschule gehen muss. Sie beobachten Integration aus sicherer Entfernung ihrer Filterblase heraus.

Die Folgen solcher Haltungen sind destruktiv. Wo immer innerhalb der deutschen muslimischen Community Stimmen in Richtung Liberalisierung, Aufklärung und Demokratisierung ertönen, werden sie als „muslimfeindlich“ oder sogar „rassistisch“ denunziert. Ob es sich um Seyran Ateş handelt oder auch um mich, wir gelten unter Linken als verdächtig, als Renegaten – wir werden gleichermaßen von links angefeindet wie von der islamistischen Seite. Darf es wirklich sein, dass ein Mob wie in Chemnitz das noch verschärft?

Moralapostel zu sein ist leicht

Dabei ist die Debatte in der Zivilgesellschaft die Essenz von Demokratie und der wichtigste Schutzmechanismus vor Extremismus und Faschismus. Wird aber geschwiegen aus Furcht, „uncool“ oder nicht links genug zu wirken, schadet genau das dem Kampf gegen rechts. So spielen wir AfD, Pegida und anderen Nazigruppen in die Hände.

Es ist leicht, Moralapostel und Realitätsverweigerer zu sein. Man muss nur die Augen schließen und wie ein Mantra den Zusammenhang leugnen zwischen islamistischer Radikalisierung, fundamentalistischen Islamverständnissen und einem patriarchalischen Rollenverständnis, das Gewalt gegen Frauen und Kinder für legitim hält.

„Die Muslime“ oder „die Flüchtlinge“ werden behandelt wie bedrohte Tierarten, die vor Assimilation und Rechten beschützt werden müssen. Doch Migranten brauchen keinen „Artenschutz“, sondern Menschenrechte. Für uns gilt Artikel 1 des Grundgesetzes genauso wie für alle anderen auch.

Migranten brauchen keinen „Artenschutz“, sondern Menschenrechte

Rassistisch und in besonderem Maß unverschämt gegenüber Zugewanderten ist es daher, wenn deutsche Linke in der Meinungsfreiheit, im Recht auf sexuelle Selbstbestimmung oder in der Gleichberechtigung von Mann und Frau offenbar „weiße“ Werte sehen, die zu stärken einem Kulturkolonialismus gleichkäme.

Zwei verschiedene Republiken

Die Debatte ist so emotional, so wütend geworden, dass man beinahe das Gefühl bekommt, zwei verschiedene Republiken hätten sich gebildet, deren Narrative, Denk- und Handlungsweisen miteinander wenig zu tun haben. Und dazwischen steht eine verunsicherte Mitte.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Um Rechtsradikalismus zu bekämpfen und um der Jahrhundertaufgabe Integration zu begegnen, braucht die Gesellschaft die Courage für eine offene Streitkultur jenseits grob geschnitzter Kategorien von „gut“ und „böse“. Was uns fehlt, ist eine Debatte jenseits von falscher Toleranz auf der einen Seite und Panikmache auf der anderen.

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arabischer Israeli, lebt seit 2004 in Deutschland. Er ist Psychologe und Extremismus­experte. Gerade erschien sein neues Buch „Klartext zur Integration“ (S. Fischer).

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