Kommentar Proteste in Russland: Die Angst der Autokraten

Die Verquickung von Jugend- und Sozialprotesten hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Das Regime reagiert nervös und fackelt nicht lange.

Ein Polizist zieht ein Mädchen an ihren Haaren

Offenbar gelten selbst kleine demonstrierende Mädchen als gefährlich Foto: dpa

Der russlandweite „gemeinsame Wahltag“ am Sonntag war für die Polittechnokraten im Dienste des Kreml durchaus ein Erfolg. Moskaus Bürgermeister und Putin-Vertraute Sergei Sobjanin wurde problemlos wiedergewählt. Auch zweifelte landauf, landab kaum jemand an der Rechtmäßigkeit der verschiedenen Wahlgänge. Dass einige mit Schlappen für das Kreml-Aufgebot in der Provinz endeten, werten manche Beobachter sogar als Beleg dafür, dass dieses Mal zurückhaltender als sonst manipuliert wurde.

Doch autoritäre Systeme sind schnell verunsichert. Autokraten fehlt eine echte Bindung an die Wähler. Wie weit die Verunsicherung im Kreml gediehen ist, zeigte schon die überstürzte Übernahme eines TV-Programms, das einmal wöchentlich zur besten Sendezeit den Kreml-Chef in leuchtenden Farben zeigt.

Denn seit Putin das Renteneintrittsalter herauf setzte, gerät auch er in den Abwärtssog. Plötzlich kann sich der „Teflonmann“ nicht mehr davon stehlen. Die sozialen Proteste gegen die Erhöhung des Rentenalters stellen für das System eine größere Gefahr dar als jegliche Kritik demokratischer Defizite aus den Reihen der überschaubaren Opposition. Zumal der Herausforderer Putins, Alexei Nawalny, diese Proteste koordiniert.

Die Verquickung von Jugend- und Sozialprotest hat eine neue Qualität erreicht. Mit rund tausend Festnahmen fackelte der Staat deshalb auch nicht lange. „Zahlt Renten, statt Schlösser zu bauen“, stand auf einem Transparent. Da ist vom Eingemachten die Rede, nicht von Teilhabe.

Die Proteste sind seit Beginn des Sommers nicht mehr einzudämmen. Mehr als 50 Prozent der BürgerInnen unterstützen die Forderungen. Fraglich ist allerdings, ob sie auch bereit wären, im Ernstfall auf die Straße zu gehen. Eine revolutionäre Situation liegt noch lange nicht vor. Klar ist, der Kreml müsste langfristig eine Antwort finden. Doch mit welchem Geld? Selbst militärische Ablenkungsmanöver kosten. Die Hilflosigkeit des als Rettung gedachten TV-Programms hatte etwas von Selbstentzauberung.

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Jahrgang 1956, Osteuroparedakteur taz, Korrespondent Moskau und GUS 1990, Studium FU Berlin und Essex/GB Politik, Philosophie, Politische Psychologie.

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