Die Wahrheit: Chill dein Lifestyle!

Die Brut auf der Couch findet, dass Hausaufgaben machen heute nicht nötig ist. Und Erdbeeren? Sind für sie Nüsse.

Die Kinder sitzen auf der Couch und gucken YouTube-Videos auf dem Tablet. „Habt ihr nicht noch Hausaufgaben zu machen?“, frage ich, obwohl ich selbst früher nie Hausaufgaben gemacht, sondern immer vor dem Unterricht abgeschrieben habe. „Nein, noch nicht“, sagen die Kinder, und dann sagen sie: „Aber jetzt wollen wir erst mal unseren Lifestyle chillen.“ Verblüfft schaue ich sie an. „Ihr wollt was?“ – „Wir wollen unseren Lifestyle chillen!“ Ich hole tief Luft, aber dann sage ich doch lieber nichts. Es sind empfindsame Seelen, die noch reifen müssen. Dafür braucht man vielleicht nicht zwingend korrekte deutsche Sätze.

Aber dann will ich ihnen wenigstens noch etwas Gesundes unterschieben. „Wollt ihr Erdbeeren?“, frage ich daher. Sie schauen nicht mal auf: „Nö.“ – „Aber Obst ist gesund!“, hake ich nach, und da werden sie plötzlich munter. „Obst?“, quiekt der Kleine, „Erdbeeren sind doch kein Obst! Erdbeeren sind Nüsse!“ Ich bin fassungslos.

„Erdbeeren sind also Nüsse und kein Obst, so, so. Wer hat euch das denn erzählt? Diese YouTuber, die Sätze sagen wie: ‚Ich chille meinen Lifestyle?‘ Ernsthaft?“ Die Kinder schauen mich irritiert an. „Aber Erdbeeren sind nun mal Nüsse“, sagt der Kleinere, „die vermeintliche rote Frucht ist nur eine Scheinfrucht. Die eigentlichen Früchte sind die kleinen Körner da drauf. Und das sind Nüsse.“

Ich glaube, es hackt. „Eure YouTuber sollen lieber erst mal sprechen lernen, bevor sie sich den Kopf über Pflanzenmorphologie zerbrechen! Über Scheinfrüchte räsonieren, aber ‚Ich chille meinen Lifestyle‘ sagen! Und was kommt als Nächstes? Dass sie nicht süß schmecken, sondern scharf?“ Der Große ruft: „Scharf ist doch kein Geschmack! Scharf ist ein Schmerz! Es gibt nur süß, bitter, salzig und sauer, mehr können unsere Geschmacksrezeptoren nicht wahrnehmen!“

„Eure vielleicht nicht! Weil ihr eure Geschmacksrezeptoren von diesen YouTubern verkleistern lasst!“, bin ich allmählich richtig in meinem Element, „nicht richtig sprechen können, aber das dann neunmalklug, diese korinthenkackenden Arschlöcher!“ – „Ey Alter“, sagt mein Älterer, „jetzt geh mal nicht so krass ab. Ist doch alles nice. Setz dich einfach dazu. Gerade haben LarsOderSo und Arazhul das neue Süßigkeitenvideo aus Thailand released.“

„Ich soll mir angucken, wie diese sprachgestörten Schwachmaten thailändische Süßigkeiten in sich reinstopfen und dabei sinnloses Zeug plappern?“ Aber mein Jüngerer hält mir das Tablet vor, und ich schaue kurz drauf und denke: Bääääh, was ist das denn?, und auf dem Bildschirm ploppt in Comic-Schrift ein großes „Bäääh“ auf, und ich denke, das Zeug sieht aber wirklich krass eklig aus, und Arazhul sagt, dass das aber wirklich krass eklig aussieht, und dann denke ich: ach Scheiße, was soll’s, und setzte mich mit aufs Sofa. Hausaufgaben können sie morgen ja noch irgendwo abschreiben. Und vielleicht sollte ich auch einfach mal ein bisschen meinen Lifestyle chillen.

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Heiko Werning ist Reptilienforscher aus Berufung, Froschbeschützer aus Notwendigkeit, Schriftsteller aus Gründen und Liedermacher aus Leidenschaft. Er studierte Technischen Umweltschutz und Geographie an der TU Berlin. Er tritt sonntags bei der Berliner „Reformbühne Heim & Welt“ und donnerstags bei den Weddinger „Brauseboys“ auf und schreibt regelmäßig für Taz und Titanic. Letzte Buchveröffentlichung: „Vom Wedding verweht“ (Edition Tiamat).

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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