Verdrängung durch Musik in Neukölln: Klingt echt schräg!

Die Bahn geht akustisch in die Offensive: Am S-Bahnhof Hermannstraße sollen Junkies und Trinker mit atonaler Musik vertrieben werden.

Handgeschriebenes Notenblatt

Notenblatt von Arnold Schönberg, Schöpfer der atonalen Zwölftonmusik Foto: dpa

Atonale Musik ist ziemlich speziell. Die Töne hängen gern mal einzeln in der Luft, es gibt keine gewohnten Klangfolgen. Jederzeit kann ein dissonanter Akkord dazwischengrätschen. Oder eine Tonfolge, die zwar irgendwann endet, aber nirgendwo ankommt.

Die Melodie – wenn man sie überhaupt so nennen mag – bleibt einfach stehen, sie kehrt zu keiner Basis, zu keinem Grundton zurück, denn den gibt es nicht. Manche sagen deshalb: Atonale Musik hat kein Zuhause.

Das klingt pathetisch, erklärt aber vielleicht, warum die Stücke so anstrengend zu hören sind. Genau das will sich die Bahn jetzt zunutze machen: Der S-Bahnhof Hermannstraße in Neukölln soll mit atonaler Musik beschallt werden, um unerwünschten BesucherInnen den Aufenthalt zu vermiesen, bestätigt die Pressestelle – sprich: um Junkies oder Trinker mit schrägen Klängen zu vertreiben.

Noch in diesem Jahr will die Bahn mit der akustischen Offensive beginnen. Wobei die Berieselung nicht am Bahnsteig unten, sondern nur im Bereich des Bahnhofs oben geplant ist, man will schließlich nicht die auf die Züge wartenden Fahrgäste vergraulen.

„Wir nerven alle“

Einen ähnlichen Versuch machte die BVG bereits 2010 am U-Bahnhof Adenauerplatz. Um die Drogenszene zu vertreiben, wurde im Zwischengeschoss klassische Musik gespielt. „Wir haben damals gemerkt: Ja, wir nerven, aber wir nerven alle“, berichtet Sprecherin Petra Reetz der taz. Auch den MitarbeiterInnen in den Läden sei das Gedudel auf den Wecker gegangen. „Das war nicht unsere Absicht, also haben wir das wieder abgestellt.“

Das dürfte an der Hermannstraße weniger das Problem sein: Der Bahnhof besteht aus einem Glasbau mit überdachtem Bereich, eine Treppe führt hinunter zu den Gleisen des S-Bahn-Rings, Geschäfte gibt es hier nicht direkt. Nur die Neuköllner Passanten würden von der Musik kurzzeitig mit behelligt.

Allzu empfindlich sollten sie auf so eine Zumutung nicht reagieren. Teile der Hermannstraße gehören zu den acht kriminalitätsbelasteten Orten in Berlin, man ist hier einiges gewohnt: Drogenabhängige, die keinen besseren Ort finden als die Bahnhofstreppe, um sich offen einen Schuss zu setzen. Trinker, die hier gemeinsam den Tag verbringen – gegen die sich die Musik ja genau richtet.

Ob sie den schrägen Klängen wirklich weichen und weiterziehen, wird sich zeigen. Wer weiß, vielleicht erkennt sich der ein oder andere sogar in der Musik wieder? Irgendwo hängen bleiben, nirgendwo ankommen, kein Zuhause haben, anstrengend sein, andere irritieren – das gilt schließlich für die Töne wie für viele derer, die damit vertrieben werden sollen.

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