Verhaltensbiologin über das Küssen: „Küssen wirkt wie Impfen“

Menschen stecken einander gegenseitig die Zunge in den Hals und tauschen Speichel aus. Die Verhaltensbiologin Elisabeth Oberzaucher erklärt, was das eigentlich soll.

zwei Frauen küssen sich bei der LGBTI*-Parade in Mexiko-Stadt

Küssen dient der Kommunikation – und dem Austausch von Krankheitserregern Foto: ap

taz am wochenende: Frau Oberzaucher, warum küssen wir?

Elisabeth Oberzaucher: Eine der am weitesten verbreitete Hypothese ist, dass das Küssen aus dem Mund-zu-Mund-Füttern entstanden ist. Aus der Mutter-Kind-Beziehung also, wo Nahrungsbrei zerkaut und dem Kind gegeben wird. Eine Handlung, die die Bindung stärkt. Und das wurde letztlich in die romantische Beziehung übersetzt.

Welche Anhaltspunkte gibt es für diese These?

Es gibt noch ein paar wenige Kulturen, in denen es Mund-zu-Mund-Fütterung gibt – und da kommt dafür das romantische Küssen nicht vor. Entweder oder.

Es gibt auch die Theorie, dass Küssen ein Balzritual ist. Früher haben wir einander am Hintern gerochen, dann haben wir uns aufgerichtet und das Ganze auf den Mund verlagert.

Das ist eine andere mögliche Erklärung. Beim Küssen kommt man sich nahe, man riecht und schmeckt sich. Die chemische Zusammensetzung unserer Körpersäfte hängt mit unserem Immunsystem zusammen. Dementsprechend kann man durchs Küssen testen, ob das Gegenüber zu einem passt. Denn für die Fortpflanzung ist ein passendes Immunsystem wichtig.

Das überlegen wir uns aber nicht bewusst, oder?

Nein. Die meisten Verhaltensweisen überlegen wir uns nicht vorher. So reflektiert sind wir nicht.

Küssen ist also auch eine Art Test, ob der Kusspartner passt. Wenn dieser Test fehlschlägt, gibt es dann keine Hoffnung auf eine Beziehung?

, 44, ist eine österreichische ­Verhaltensbiologin. Sie lehrt an der Uni Wien und erforscht ­mensch­liches Verhalten aus Sicht der Evolution.

Es spielen ja bei der Einschätzung des Gegenübers ganz viele Faktoren zusammen. Gefällt mir die Person optisch, riecht sie gut, mag ich die Stimme. Gefällt mir, was sie sagt? Man muss beim Küssen nicht perfekt abschließen, um gewählt zu werden. Sowohl chemisch als auch technisch.

Wenn es gut läuft, kann sich aus einem Kuss eine Beziehung entwickeln. Im Laufe der Beziehung nimmt das wilde Knutschen meist ab. Nur noch ein Bussi hier, ein Bussi da.

Eine biologische Erklärung lautet, dass Küssen wie Impfen wirkt. Mit dem Küssen tauschen wir auch unsere Bakterien und Viren aus. Das heißt, wir kommen mit der Mikroflora in Kontakt. Es ist wichtig, dass das lange vor einer Schwangerschaft passiert …

… wieso das?

Es gibt manche Krankheitserreger, die sind nicht besonders schlimm, können aber für einen Embryo gefährlich sein. Etwa bestimmte Herpesviren. Und wenn man diesen Erstkontakt sechs Monate vor der Schwangerschaft hatte, ist die Erstimmunisierung abgeschlossen und es wirkt sich nicht mehr negativ aus.

Küssen ist also nicht mehr notwendig, wenn ein Kind da ist?

Das hat man dann abgehakt, das erledigt man am Anfang der Beziehung.

Selbst wenn es kein Kind gibt oder in homosexuellen Beziehungen?

Dazu gibt es noch keine Antwort aus der Wissenschaft. Nachdem die Funktion jedoch keiner bewussten Entscheidung bedarf, würde ich es annehmen.

Welche Bedeutung hat denn Küssen, davon abgesehen, für den Erhalt einer Beziehung?

Küssen löst die Ausschüttung von Endorphinen aus, von Oxytocin. Das ist also euphorisierend, macht glücklich. Und so wird auch die Bindung zum Partner gestärkt.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Also sollten wir auch in Beziehungen häufiger knutschen?

Ja, häufiger knutschen, häufiger Sex haben. Um auch die hormonelle Basis zu pflegen.

Küssen Frauen eigentlich anders als Männer, technisch gesehen?

Ein Unterschied ist die Übertragung von Speichelflüssigkeit. Es wird mehr Speichel vom Mann zur Frau übertragen.

Männer küssen also feuchter?

Es kann sein, dass die Männer mehr Speichel produzieren. Oder es hat was mit dem durchschnittlichen Größenunterschied zu tun. Ansonsten gibt es so viele Techniken und Theorien wie Sandkörner.

Küssen ist nicht immer romantisch, sondern auch Kommunikation. Es gibt den Eskimokuss, den Begrüßungskuss …

Es gibt da eine große kulturelle Variation. Dieses Küsschen links, Küsschen rechts. Das ist ja auch schon in jedem Land verschieden. In der Schweiz dreimal, bei uns in Österreich zweimal, in Deutschland ist das meines Wissens nicht so weit verbreitet.

Selbst der Papst lässt sich küssen, auf den Ring.

Eine Art Unterwerfungsgeste. Es gibt ja noch den Bruderkuss. Der hat eine weitere Funktion. Da umarmt man sich auch, und es geht darum, dass man sich abtastet, ob man versteckte Waffen bei sich trägt. Küssen ist nicht immer nur Hingabe.

Nicht alle Menschen küssen sich. In China galt Küssen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als „ekelhafte Spielart von Kannibalismus“. Ändert sich das?

Auch in China gibt es ja viel Variabilität. Und außerdem wirkt sich die vor allem medial globalisierte Welt auch dort aus, wir gleichen uns kulturell an. In China wird ja jetzt auch weiß geheiratet, obwohl das traditionell die Farbe der Trauer ist. Das gilt auch fürs Küssen in der Öffentlichkeit, da wird das Land tendenziell westlicher.

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