berliner szenen
: Man muss nur Geduld haben

Die Tochter wünscht zum Frühstück statt Vollkornbrot in Zukunft Haferflocken. Bei der morgendlichen Nahrungsaufnahme soll jeder nach seiner Fasson zufriedengestellt werden, besonders wenn das nur 89 Cents kostet. Ich kaufe eine Packung „Kernige“ und stelle zu Hause fest, dass in der Blechdose auf der Anrichte noch jede Menge Haferflocken gewesen wären. Das klingt jetzt erst mal langweilig. Abwarten, gleich wird’s profund.

Statt mich darüber zu ärgern, greife ich auf die mir mittlerweile zugewachsene Lebenserfahrung zurück, die unter anderem besagt, dass auch ein Kilo Haferflocken irgendwann verspeist ist, wenn man jeden Morgen eine Schüssel davon auf den Frühstückstisch stellt und warme Milch drüber gießt. Wenn man jeden Abend vor dem Einschlafen ein paar Seiten Proust liest, hat man irgendwann auch die „Suche nach der verlorenen Zeit“ durch. Es läppert sich halt, man muss nur ein bisschen Geduld haben. Es scheint auch noch gar nicht so lange her zu sein, dass man die Tochter morgens zum Kindergarten gebracht hat. Und gerade ist mir aufgefallen, dass sie in drei Jahren mit der Schule fertig ist und sich irgendwann ein letztes Mal morgens mit „Tschüss, Papa“ auf den Weg zum Bus gemacht haben wird.

Wahrscheinlich hat Berlin bis dahin einen „Hauptstadtflughafen“. Der Rütli-Campus vor der Haustür, an dem sie jetzt seit über zehn Jahren bauen, ist dann möglicherweise ebenfalls fertig. Die Bäume in der Weserstraße, die im letzten Jahr abgesägt wurden, sind inzwischen auch nachgewachsen. Auch der lange Text, den ich seit Wochen vor mir herschiebe, wird eines Tages gedruckt und bald von allen, mich eingeschlossen, vergessen sein. Bis dahin sind auch die verdammten Haferflocken aufgegessen. Es läppert sich. Tilman Baumgärtel