Essay zum Mauer-Zirkeltag: Blind durch die Gegenwart

Unser Autor erinnert sich: Für sein junges Ich war die Mauer immer schon da gewesen. Dann fiel sie. Völlig überraschend. Was lernt er daraus?

Grenzmauer steht auf einer Metallplatte

Gedenkstätte „Berliner Mauer“ an der Bernauer Straße in Berlin Foto: dpa

Weg. Sie ist weg. Einfach so. Es ist ein Donnerstag, spät abends. Ich bin gerade quer durch Deutschland getrampt zu meinen Eltern – vom Grenzübergang Dreilinden in Berlin (West) über die Transitstrecke durch die DDR bis ins Ruhrgebiet. Ein Überraschungsbesuch. Die eigentliche Überraschung aber haben die, die da zuhause auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzen. „Die Mauer!“, rufen meine Eltern und deuten auf Hanns-Joachim Friedrichs, der in den Tagesthemen gerade die Nachricht aus Berlin gebracht hat: „Dies ist ein historischer Tag, die Tore der Mauer stehen weit offen!“. Es ist der 9. November 1989.

10.315 Tage ist das am heutigen Montag her. 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage. Eine lange Zeit. Auf den Tag genauso lange, wie die Mauer in Berlin gestanden hat. Auch eine lange Zeit – was erklärt, warum für damals junge Menschen wie mich, der Mauerfall so überraschend war. Die real existierende Gegenwart hatte uns blind gemacht. Eine andere Gegenwart war zwar nicht unvorstellbar, aber unvorgestellt. Sie kam in unserem Weltbild gar nicht vor.

Ich bin in den 60er Jahren geboren und gehöre damit zu denen, für die die Mauer einfach immer schon da war. Wir sind damit aufgewachsen. Ein ganze Generation junger Menschen war bereits erwachsen geworden – mit der Mauer. Die war nicht schön, nicht beliebt, irgendwie ein Unding, aber eben doch die angemessene Konsequenz aus der deutschen Geschichte.

Grenzen für unverrückbar gehalten

Die DDR war nicht irgendein anderes Land, aber so ähnlich wie Österreich. Gleiche Sprache, aber eben doch: ein anderes Land. Wir hatten gelernt und vor allem akzeptiert, dass sich Grenzen verändern können und dürfen. Und genau deshalb hatten wir sie für unverrückbar gehalten.

Natürlich gab es auch in den 80er Jahren Menschen, die über Wiedervereinigung redeten. Aber das waren – für meine Generation – die Alten, die Ewiggestrigen. Wenn Erich Honecker davon faselte, dass die Mauer auch in 100 Jahren noch stehen würde, dann war klar, dass da ein aufgeblasener Kauz sprach. Aber ja, so richtig in Zweifel ziehen wollten man seine Ansage nicht.

Dann kamen die Montagsdemonstrationen im Osten, die Ausreisewelle über Ungarn erst und dann über Prag, die seltsame Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989, und dann gingen die Schranken hoch. Wahnsinn! Wenig später schnappte sich ausgerechnet der dröge Bundeskanzler Helmut Kohl den Mantel der Geschichte und setzte auf diplomatischem Parkett gegen die Widerstände vor allem aus Großbritannien und Frankreich die Wiedervereinigung durch, die ursprünglich nicht einmal zu den vordringlichen Interessen der Demonstranten in der DDR gehört hatte.

10.315 Tage

Anschließend war vielfach die Rede vom „Ende der Geschichte“. Dabei war auch der 9. November 1989 nur der Anfang der nächsten.

10.315 Tage ist das jetzt her. Längst wieder ist eine ganze Generation junger Menschen erwachsen geworden, die es gar nicht anders kennt. Und ich selbst bin nun einer von den Alten, die von früher erzählen. Verwandte, Freunde, Bekannte, Besucher aus vielen Ländern der Welt habe ich in den letzten Jahren zur Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße geführt, um ihnen etwas verständlich zu machen.

Ich bezeichne mich natürlich nicht als Ewiggestrigen, sondern als Zeitzeugen. Auch weil es mir schon um die Geschichten von damals geht. Vor allem aber, weil ich so hoffe, dass wir nicht wie ich, wie mein Generation damals wieder blind werden durch die real existierende Gegenwart. Blind dafür, dass alles sehr schnell auch ganz anders aussehen könnte.

Wie zum Beispiel wird die Welt am 4. Mai 2046 aussehen. Das klingt noch sehr weit weg. Der Regisseur Wong Kar Wai hat vor ein paar Jahren einen Film mit dem Titel gedreht: „2046“. Science Fiction. Und doch sind es von heute bis zum 4. Mai 2046 wieder nur 10.315 Tage.

Ich werde dann, wenn alles gut geht, 80 Jahre alt sein. Genauso alt wie meine Großmutter damals beim Mauerfall. Für sie war das Anlass, noch einmal zurückzuschauen. Wir sind mit ihr nach Eberswalde gefahren, von wo sie in den letzten Kriegstagen im April 1945 mit ihren Kindern gen Westen geflüchtet war. Beim Besuch in Eberswalde fanden wir nach einigem Suchen schließlich das Haus, in dem nun ihre einstigen Nachbarin wohnte, die 1945 zusammen mit ihr geflüchtet war. Als wir bei ihr klingelten, hat sie meine Oma auf den ersten Blick wiedererkannt. Nach 45 Jahren.

Der Umbruch kam erfahrungsgemäß deutlich öfter als mal denkt

Das war eine der bewegensten Momente meines Lebens. Und doch ist mir heute klar: selbst diese 45 Jahre waren nur ein Teil das fast 100-jährigen Lebens meiner Großmutter.

Sie hat nicht nur die 10.315 Tage der Mauer erlebt, sondern auch die 5.941 Tage zwischen Kriegsende und Mauerbau. Und die im Vergleich fast schon kurz erscheinenden 4.481 Tage, in denen die NSDAP Deutschland regiert und zerstört hat. Dazu die 5.194 Tage der Weimarer Republik. Und als Kind sogar noch die letzten Jahre des Deutschen Kaiserreiches. Das immerhin hat 17.478 Tage bestanden – die letzte Phase in der deutschen Geschichte, die länger dauerte als die Zeit der Berliner Mauer.

Ganz egal, was man von den einzelnen geschichtlichen Abschnitten hält, sie zeigen: Der Wandel, der Umbruch kam erfahrungsgemäß deutlich öfter als mal denkt. Anders als der Mauerfall muss er nicht unbedingt eine Verbesserung bedeuten. Und eine 10.315 Tage währende Phase ohne radikalen Einschnitt ist die Ausnahme, nicht die Regel. Nimmt man die letzten 150 Jahre deutscher Geschichte zur Grundlage, dann ist ein baldiger erneuter Wechsel gar nicht so unwahrscheinlich.

Wenn sich heute viele kaum vorstellen können, vorstellen mögen, dass das jetztige politische System, die Bundesrepublik, die Europäische Union mal nicht mehr existiern könnte, dann zeigt das nur, dass wir schon wieder blind geworden sind durch die real existierende Gegenwart – weil sie so schön bequem ist.

Wann hat alles angefangen?

Nach einem Umsturz kommen die Analysten und beschreiben, wann wo und wie alles angefangen hat. Wo der Anfang vom Ende war. Beim Ende der DDR sagen einige, es habe schon mit dem Aufstand am 17. Juni 1953 begonnen – Jahre vor dem Mauerbau. Oder mit der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann in den 70ern. Mit den Protesten der Bürgerbewegung gegen die DDR-Wahlen in den späten 80ern. Mit Ronald Reagans Appell an Michail Gorbatschow am Brandenburger Tor 1987. Oder doch erst mit der ersten Leipziger Montagsdemonstration im Herbst 89. Ganz egal was es war: all dies zeigt, der Umbruch war zwar zu keinem Zeitpunkt zwangsläufig, aber er deutete sich an.

Die Fragen für den Blick in die Zukunft also sind: Was sind heute die Indizien? Der weltweite Klimwandel? Oder – weil näher am politischen System – das ungebremste Wiederauferstehen des Nationalismus in vielen Ländern Europas? Und vor allem: Was kann man daran noch ändern, wenn man nicht bis zum nächsten Umbruch nur abends vor dem Fernseher sitzen will?

Lesen Sie hier einen weiteren persönlichen Text zum Mauer-Zirkeltag.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.