Der Hausbesuch: Liebe in der Parallelwelt

Für ihren Enkel heißt sie „Marmeladenoma“. Und seit er sie überredete, auf YouTube Märchen vorzulesen, heißt sie für viele andere auch so.

Ein Teenager fotografiert eine ältere Frau, an einem Tisch sitzt; sie ist seine Oma,

Janik und die Marmeladenoma bei den Vorbereitungen zum Livestream auf Youtube Foto: Created Media

Wenn sie im Internet Märchen vorliest, hören ihr Tausende zu. Ein Besuch bei Helga Sophie Josefa, die aus ihrem Leben erzählt, und Enkel Janik, der sie ins Netz gesetzt hat.

Draußen: Wo der Schwarzwald in die Rheinebene übergeht, liegt Ettlingen. Kahle Bäume säumen die Straßen. Es ist Winter. Es regnet. Tropfen hängen an den Fenstern, Spitzenvorhänge schirmen sie an einigen Häusern von der Außenwelt ab.

Drinnen: Janiks Kinderzimmer ist das Studio. Ein Tisch steht an der Wand. Auf der einen Seite ein Schreibtischstuhl für Janik, auf der anderen ein Holzstuhl für Helga. Auf Janiks Seite: ein Hochbett, darunter seine Höhle. Eingerichtet ist sie mit Schreibtisch, darauf zwei Bildschirme, Tastatur und Maus. Auf Helgas Seite: ein Stativ mit Mikrofon, eine Softbox-Leuchte und ein Regal mit Märchenbüchern – denn im Internet ist Helga Sophie Josefa die „Marmeladen­oma“, die jeden Samstag um 20 Uhr live Märchen vorliest.

Die Oma: Helga Sophie Josefa, 86, weiße Haare, die im gelben Licht fast blond wirken, sitzt auf ihrem Stuhl vor der Kamera, in beiden Händen ein Märchenbuch. „Willkommen auf der Märcheninsel von der Marmeladen­oma und Enkel Janik“ leitet sie das Video ein und beginnt „Des Kaisers Nachtigall“ zu lesen, ein Märchen von Hans Christian Andersen. Ihre Stimme klingt sanft. „Wieso ist mir die Nachtigall noch nie vorgestellt worden“, liest sie, „ich möchte, dass sie heute Abend in den Palast kommt und mir etwas vorsingt. Wenn sie aber nicht kommt, lasse ich dem ganzen Hofe auf den Bauch treten.“ Helga stoppt kurz, blickt in die Kamera: „Eine seltsame Strafe“, kommentiert sie. Das macht ihre Märchenstunde so liebenswert, dass sie mitunter etwas zum Text sagt. So stellt sie Nähe her. Dann liest sie weiter. Knapp 25 Minuten dauert das Video. Am Ende setzt Musik ein, das Bild wird unscharf, sodass nur noch zu erkennen ist, wie sie ein Lesezeichen in das Buch legt und sich die Haare zurückstreicht.

Der Enkel: Für das Schneiden und Hochladen der Videos ist Janik, 15, verantwortlich. „Janiks große Waffe ist das Schweigen“, sagt Helga. „Ich kann das gar nicht.“ Die Idee der „Marmeladenoma“ als Livestream kam von ihm. Früher mochte er es, wenn ihm vorgelesen wurde, als er älter wurde, verschoben sich seine Interessen. An die Stelle von Lego und Märchen trat der Computer. Während seine Oma las, surfte er im Internet. Es war ein Nebeneinander, anstatt ein Miteinander. Im Mai 2016 hatte er dann einen Einfall: Wieso nicht beides verbinden? Er richtete den YouTube-Kanal ein und gab ihm den Namen „Marmeladenoma“ – denn seine Oma macht, meint er, „die weltbeste Marmelade“.

Ein Buch auf einem Tisch. Auf dem Titelbild sieht man ein Mädchen, das Sterne, die herunter fallen mit seinem Kleid auffängt

Märchenbücher sind die wichtigste Rquisite der Marmeladenoma Foto: Sarah Bioly

Der Hype: „Anfangs waren wir nur eine kleine, schnuckelige Sendung mit ein paar hundert Zuschauern“, erzählt Helga. Bis vor rund einem Jahr Gronkh die Seite der Marmeladenoma während eines Livestreams besuchte. Gronkh ist mit 4,7 Millionen Abonnenten einer der bekanntesten deutschen YouTuber. Kurz nachdem er die Marmeladenoma empfahl, stieg ihre Zuschauerzahl auf mehr als 4.000. Der Stream brach kurzzeitig sogar zusammen. Gronkh meinte dazu überrascht: „Wir haben die Oma abgeschossen.“ Er fand die Idee gut und die Marmeladenoma sympathisch, deshalb wollte er ihr mit seinem Besuch eine Freude machen. Es gelang. In einem Video bedankte sich Helga bei Gronkh, es hat über zwei Millionen Klicks.

Lawine: Inzwischen folgen rund 190.000 Abonnenten auf YouTube der Marmeladenoma und tausend Leute schauen ihr wöchentlich beim Livestream zu. Um ihre Privatsphäre zu schützen, halten Oma und Enkel ihre Nachnamen geheim. Doch auf der Straße werden sie häufig erkannt. Mit Herzchen und Fanpost werden sie überschüttet. „Es ist eine Lawine der Zuneigung“, sagt Helga.

Die Fans: Die meisten Zuschauer sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, drei viertel von ihnen sind Männer. Doch ob Mann oder Frau, sie alle sehnen sich nach Ruhe und Geborgenheit und finden beides in den Märchen, die Helga vorliest. „Wenn ich abends in meinem Studentenwohnheim Ruhe will“, kommentiert Vana Nowight unter dem Video von des Kaisers Nachtigall, „höre ich mir dieses Märchen an.“ Dana_tsc schreibt: „Habe momentan eine stressige Zeit und hoffe, dass mich das heute Abend ruhig zum Einschlafen bringen kann.“ Sie schaffe „eine heile Welt“, sagt Helga, denn in Märchen siege immer das Gute. Auf Wunsch ihrer Fans schreibt sie inzwischen auch Geschichten aus ihrem Leben auf und liest sie live vor. Ein paar Minuten, in denen Helga den Spitzenvorhang vor ihrem Fenster anhebt und die Menschen zu sich hineinblicken lässt.

Eine Wand, an der Fotos, Postkarten und Grüße hängen

Fanpost an die Marmeladenoma Foto: Sarah Bioly

Kindheit: „Ich hatte eine schlimme Kindheit“, erzählt Helga. „Ich war das Aschenbrödel.“ Als sie acht war, starb ihre Mutter. Vorbei waren die Abende mit ihren Geschwistern, wo sie musizierten und die Eltern Märchen vorlasen. Statt Märchen las ihre Stiefmutter „Liebesromanschinken“, sagt Helga und fügt hinzu: „Ich habe sie dafür verachtet.“ Keines der acht Kinder konnte die Stiefmutter leiden. Den Gemüsegarten und den Hühnerhof hatte sie abgeschafft, ebenso die Gans, die Enten und Hasen, mit denen Helga aufgewachsen war. „Sie hat unsere ganze Welt zerstört.“

Verluste: „Ich habe mich in die Märchen geflüchtet, die Realität war zu hart.“ Im Krieg wurde alles noch schlimmer. Helgas Familie wurde durch den Krieg zerstört, deshalb möchte sie über diese Zeit nicht sprechen. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen. Wenn sie heute, 72 Jahre später, nicht einschlafen kann, weil der Schrecken wieder hochkommt, geht sie in Gedanken ans Meer und lauscht dem Rauschen der Wellen. Dann vergisst sie auch, dass es damals nur wenig zu Essen gab. Ein Marmeladenbrot war Luxus. Und sie vergisst, dass sie keine Lehrstelle bekam und ihre Stiefmutter sie nach dem Krieg in die Fabrik schickte. Dort nähte sie Kuscheltiere. Vier pro Tag, für 50 Pfennig die Stunde.

Endlich leben: Als Helga 18 war, lernte sie ihren Mann kennen. „Ich habe mich damals in seine Stimme verliebt“, sagt sie. Eines Abends saßen sie bei einem romantischen Ausflug auf der Alp, er mit Gitarre. „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“, sang er. „Ich schmolz dahin.“ Es dauerte nicht lange, bis sie heirateten und Helga schwanger wurde.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Böse Stiefmütter: Auch er hatte eine böse Stiefmutter. Die sperrte die Tür zu, sodass er nicht ins Haus konnte, wenn sie nicht da war. Beide wollten weg von ihren Elternhäusern und sich ein eigenes Zuhause aufbauen. Heute hat Helga drei Söhne, vier Enkel und fünf Urenkel. Eine Oma ist sie aber noch für viel mehr Menschen, die nie eine hatten. Unter dem Video „Des Kaisers Nachtigall“ schreibt Layukii: „Es fühlt sich so an, als ob du wirklich meine Oma wärst.“

Botschafterin des Glücks: Mit ihren Geschichten will sie Liebe in die Welt bringen. Dank Janiks Initiative hören sie nun viele Menschen. „Und solange ich sitzen, reden und schreiben kann, machen wir weiter.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.