Post-Jamaika-Strategie der Grünen: Mit vollem Kurs auf Neuwahl

Özdemir und Göring-Eckardt wollen Spitzenkandidaten bleiben, das Programm bleibt gleich. Intern gibt es Unmut über die Biegsamkeit in den Sondierungen.

Anton Hofreiter und Cem Özdemir stehen nebeneinander und blicken nachdenklich

Sie wissen, wo sie hinwollen – aber vielleicht nicht unbedingt in dieselbe Richtung: Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter (l.) und Parteichef Cem Özdemir Foto: dpa

BERLIN taz | Bevor Cem Özdemir am Dienstag nach Schloss Bellevue fuhr, um mit dem Bundespräsidenten über Auswege aus der Nach-Jamaika-Situation zu sprechen, postete er ein Foto von sich auf Twitter. Özdemir, Brille, grauer Anzug, blickt ernst nach unten, vor sich einen Stapel Zeitungen. Staatstragend soll das wirken, aber auch tatkräftig.

Die Botschaft: Die Grünen sind bereit, Verantwortung für das Land zu übernehmen. Fragt sich nur: wie? An das Zustandekommen einer Minderheitsregierung glaubt in der Grünen-Spitze niemand so recht. „Ich gehe Stand heute davon aus, dass es eher Neuwahlen geben wird“, sagte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am Montag.

Entsprechend bereit man sich in der Ökopartei gedanklich auf Neuwahlen vor – und damit auch auf einen neuen Wahlkampf. Wer ihn anführt, ist schon jetzt klar. Cem Özdemir und Göring-Eckardt werden wohl wieder die Spitzenkandidaten. „Es spricht nichts dafür, etwas, was sehr erfolgreich war, zu ändern“, sagte Özdemir.

Beide können sich auf die gewonnene Urwahl, das 8,9-Prozent-Wahlergebnis und die disziplinierten Sondierungen für ein Jamaika-Bündnis berufen, die sie geleitet haben. Konkurrenz ist nicht in Sicht – und wäre auch nicht mehr zu organisieren. Die Grünen kegeln die Spitzenposten bekanntlich per Basisabstimmung aus, dafür wäre die Zeit bis zu einer Neuwahl zu knapp.

Keine Programmänderung

Strategisch werden die Grünen wieder darauf setzen, sich alle Koalitionen offen zu halten. „Die Grünen sind eine Partei der linken Mitte“, sagte Bundesgeschäftsführer Michael Kellner am Dienstag. „Wir bleiben bei unserem Kurs der Eigenständigkeit.“ Die Sondierungen hätten erneut gezeigt, dass es ökologische und soziale Reformen nur mit den Grünen gebe. Dass es größere Änderungen am Programm gibt, ist nicht zu erwarten. Nur die Ehe für alle, die inzwischen Realität ist, wird in den Forderungen wohl gestrichen.

Die Grünen wollen weiter auf einen geschlossenen Auftritt setzen. Die Abgeordnete Agnieszka Brugger, die im Sondierungsteam saß und das Netzwerk Grün.Links.Denken koordiniert, warnte vor Strategiedebatten. Sie sehe weder für solche Diskussionen noch für Farbenspiele aktuell Bedarf. „Wir sollten als klare Kraft der linken Mitte am gemeinsamen Kurs der letzten Wochen festhalten.“

Die Ökopartei hat sich während der Sondierungen professionell und pragmatisch präsentiert. Ihre Verhandler gingen akribisch vorbereitet in die Gespräche, informierten ihre Basis über Fortschritte und machten Kompromissangebote. Bei den Wählern kommt das gut an. In Umfragen lagen die Grünen zuletzt bei 11 Prozent. Auch der Abbruch der Jamaika-Sondierungen schadete nicht. Bei einer Blitzumfrage des Instituts infratest dimap am Montag landeten sie bei 11 Prozent, bei einer Forsa-Erhebung sogar bei 12 Prozent.

Die Sondierungen könnten jedoch auch unangenehme Folgen haben. Denn so wurde öffentlich, welche Zugeständnisse die Grünen für eine Regierungsbeteiligung gemacht hätten. Sie kassierten früh Forderungen in der Steuerpolitik, etwa die Vermögensteuer oder eine faire Erbschaftsteuer. Auch die Ziele, im Jahr 2030 aus der Kohlekraft und aus der Produktion von Verbrennungsmotoren auszusteigen, mussten dran glauben.

Besonders ein Angebot in der Flüchtlingspolitik sorgte intern für Irritationen. Das vierzehnköpfige Sondierungsteam wollte auf der Zielgeraden einen Rahmen von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr akzeptieren, um im Gegenzug den Familiennachzug für syrische Kriegsflüchtlinge wieder zu realisieren. Die Idee wurde mit dem Label „atmender Rahmen“ versehen.

Neue schwarz-grüne Sympathie

„Klingt für mich wie ‚Kollateralschäden‘ für zivile Kriegsopfer“, twitterte danach Daniel Wesener, Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus. Eine linksgrüne Bundestagsabgeordnete hält das Angebot für einen Fehler. „Dem Team ist intern deutlich gespiegelt worden, dass das too much war.“ Ob solche Verstimmungen sich auf dem Parteitag am Samstag materialisieren, ist aber ungewiss.

Interessant ist, dass die zähen, wochenlangen Sondierungen eine neue, schwarz-grüne Sympathie produzierten. Unions-Leute lobten die Sachkenntnis der Grünen. Jene wiederum applaudierten in der Nacht auf Montag freundlich der Kanzlerin, nachdem die FDP-Verhandler abgerauscht waren. War die Jamaika-Sondierung die entscheidende Lockerungsübung für Schwarz-Grün?

Die Grünen mühen sich, diesem Eindruck entgegen zu wirken. Dass im Moment wieder viel von „Eigenständigkeit“ und der „Partei der linken Mitte“ die Rede ist, gehört dazu. „Auch wenn wir auf ein Ergebnis hingearbeitet haben, bleiben kulturelle und inhaltliche Unterschiede“, sagte Parteichefin Simone Peter. „Deswegen bleiben für uns linke Bündnisse weiter möglich.“ Sie sehe aber bei Linkspartei und SPD nicht, dass sie daran Interesse hätten.

Es könnte also auf ein bekanntes Setting hinauslaufen: Offiziell halten sich die Grünen vor Neuwahlen alles offen. Doch eigentlich ist allen klar, dass nur Schwarz-Grün im Topf ist.

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