Die Wahrheit: Schnell, ein Polaroid!

Das Bild aus dem Kasten ist wieder da. Immer hektischer taktet es die Zeit. Doch: Das mit dem alles verändernden Urknall zieht sich ja auch hin​.

Polaroids an einer Wand

Leben wir nicht schon längst in einer Pola-Welt? Foto: reuters

Polaroid? Ist das nicht diese klobige Dinosauriertechnik, mit der Onkel Alfred beim Gartenfest früher genervt hat? Veraltetes Zeugs? Von wegen! Pünktlich zum Weihnachtsgeschäft ist dieser Tage eine neue, digitale Polaroid-Kamera auf dem Markt. Sie druckt die Bilder im traditionellen Format 8,9 mal 10,8 Zentimeter aus. Knaller, oder?

Vor allem Vierpunktnull-Menschen, die bereits ihre gesamte Existenz in die Cloud verlagert haben, sind begeistert von dieser mobilen Chemiefabrik, die unmittelbar nach dem Knipsen schlechte Fotos ausspuckt. Die Bilder verhalten sich dann übrigens wie die Babys in Reality-Shows auf RTL II: Sie liegen auf dem Couchtisch herum, entwickeln sich von selbst und werden darüber meist vergessen. Bis eben Onkel Alfred damit herumwedelt und einen fragt, ob man das sei, dieser helle Fleck da.

Ganz offensichtlich ist das Bedürfnis nach sofortigem materiellen Output nicht totzukriegen. Qualität egal. Wir leben ja auch längst in einer Pola-Welt. Nehmen wir nur McDonald’s: Bestellung – und zack ist das Futter da. Schmeckt zwar nicht, dafür ohne Zeitverlust. Oder Popcorn: Plopp – und rin mit dem Mais. Auch Fertiggerichte für die Mikrowelle funktionieren nach dem Pola-Prinzip: Hunger – Knopfdruck – Pliiing – Fressen.

Eintopf ist ebenso voll pola: Man isst alle Menügänge auf einmal. Dazu trinkt man den Pola-Wein par excellence: „Le Beaujolais nouveau est arrivé.“ Ist übrigens das Lieblingsgesöff von Mister Minit. Und der gesamten Wahrsagerzunft – die liefern ja auch unverzüglich jene Fakten, auf die das Leben einen ewig warten lässt. Desgleichen gibt es im Tierreich Pola: Die Eintagsfliege etwa findet es Zeitverschwendung, über die philosophischen Konsequenzen ihrer Endlichkeit auch nur eine Nacht zu schlafen. Stattdessen: Existenzialismus sofort.

Die Gier der Konsumenten nach dem Pola-Prinzip ist selbstverständlich der Wirtschaft nicht entgangen, die bereits an weiteren Innovationen arbeitet. Miele bietet neuerdings den „Zackofen“ an: Kuchen rein, Knopf drücken, Kuchen fertig. (Gegen Aufpreis auch schon abgekühlt.) Nach dem Analog-Käse kommt jetzt der Sofort-Käse auf den Markt: Dank Genmanipulation verlässt er den Euter bereits als Laib. Und ein neuartiger Pizzaservice garantiert, dass der Fladen unmittelbar nach der Bestellung durch den Briefschlitz ausgedruckt wird. Wie sagt Adolf („Ad“) Hock, der Prophet des Pola-Denkens? „Gut Ding will Eile haben.“

Polaroid-Pilgertours

Ein typisches Wochenende anno 2025 wird vermutlich so aussehen: Kurz nach dem Lichtausmachen erhebt man sich ausgeschlafen und tritt den bei Polaraid-Pilgertours gebuchten Tagesausflug nach Santiago de Compostela und zurück an. Danach verfolgt man dann die von Polaroid gesponserte Bundesliga, bei der alle Spiele der Saison gleichzeitig im selben Stadion stattfinden. Zwischendurch: Breaking News (vor dem Ereignis gesendet) oder ein Blick in die Zeit (erscheint viermal täglich). Kurz dann noch den neuen Proust lesen: „Liegt doch vor deiner Nase, die verlorene Zeit, du Depp!“ Apropos Nase: Die lästige Inkubationszeit ist Geschichte – man hat jetzt Zackschnupfen.

Später gönnt man sich einen Galeriebesuch (Vernissage und Finissage finden gleichzeitig statt). Speziell für Liebespaare gibt es den Sofort-Sonnenuntergang mit Lichtschaltereffekt. Und für alle ist am Samstag gegen zehn Uhr das Wochenende durch. Endlich entspannen: mit Blitzyoga, Tempomeditation und Express-Seelenbaumeln.

Auch das Familienleben wird sich verändern – von der Wiege bis zur Bahre. Die Zusammenlegung von Las Vegas und Reno ermöglicht Hochzeit und Scheidung in einer Zeremonie. Die Sofort-Schwangerschaft beschert unmittelbar nach dem Zeugungsakt ein Baby – leider oft etwas unterbelichtet. Von Eltern sehr begrüßt wird die neue Blitzpubertät: Erstes Schamhaar, erster Vollrausch, Null-Bock-Phase und Realschulabschluss an einem einzigen Tag. Das Eigenheim wird mit dem RbA-Darlehen („Rückzahlung bei Antrag“) finanziert: sofortige, hundertprozentige Tilgungspflicht, aber dafür zinsfrei. Spektakulär auch die Beerdigung mit Expressverwesung: Die Urne mit dem Erdhäufchen wird binnen zwei Wochen nach Hause geschickt.

Polaroid-Jahreszeiten

Gewöhnungsbedürftig sind die Veränderungen in der Natur: Die Jahreszeiten fallen zusammen, sodass die Bäume (die gestern noch nicht da waren) ihr Laub am selben Tag austreiben und verlieren. Und über die Frage, ob das mit den Folgen des Klimawandels nun stimmt, muss niemand mehr streiten, seit die Okertalsperre eines Morgens an der Nordsee liegt.

Aber wo ein Trend ist, fehlt auch die Gegenbewegung nicht. Der Peter-Pan-Club zählt immer mehr Mitglieder. (Das Wappentier ist übrigens der Gehpard; der langsamste Beutegreifer Afrikas fängt umständehalber nur Schleich-Pferde.) Die Leute entwickeln unter dem Motto „Pan statt Pola-Panik“ Ideen, die der Diktatur des „Output sofort!“ etwas entgegensetzen und absichtlich kontemplative Verzögerungsphasen einbauen.

Natürlich sind nicht alle Erfindungen auf Anhieb hundertprozentig überzeugend – Klospülungen, Feuerzeuge, Bremspedale, Schmerztabletten und Toaster, die erst nach langen Stunden reagieren, werden nicht jedermanns Sache sein. Aber die WhatsApp-Nachricht, die persönlich vorbeigebracht werden muss, kann das Zwischenmenschliche durchaus wiederbeleben. Granaten, die erst explodieren, wenn alle Soldaten schon wieder zu Hause sind, helfen ganz konkret bei der Rettung von Menschenleben. Und welche Erkenntnisse der in der Schweiz geplante Teilchenverlangsamer erbringen wird, wie sich also höfliche Neutrinos verhalten, die Kollisionen um jeden Preis vermeiden und sich an die Regel „rechts vor links“ halten, wird von Wissenschaftlern mit Spannung erwartet.

Gott – ein Polaroid?

Manche Anti-Polaroid-Maßnahme hat sich übrigens ganz unbemerkt längst durchgesetzt, wie etwa die Snooze-Taste und auch die Gezeiten: Man kann sich nicht mehr vorstellen, dass sie früher gleichzeitig stattfanden – Ebbe an Backbord und Flut an Steuerbord. Die Evolutionstheorie ist ebenfalls eine direkte Reaktion auf die unglaubliche Hektik, die die biblische Schöpfungsgeschichte verbreitet. Die Vorstellung, ein Pola-Gott habe seine Sechs-Tage-Schöpfung umgehend auf seinem 3-D-Drucker von Big Brother ausgedruckt und für den Korrekturausdruck habe die Patrone nicht mehr gereicht, ist ja auch reichlich absurd.

Überlassen wir das Schlusswort einem schlecht frisierten Physiker, dem Polaroid relativ egal war, weil er eh immer die Zunge rausstreckte: „Auf ein Foto kann man auch mal warten, bis der Drogeriemarkt wieder aufmacht. Das mit dem Urknall und der Ausdehnung des Universums zieht sich ja schließlich auch ganz schön hin.“

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