Kolumne German Angst: Gegen die freiwillige Infantilisierung

Der Wahlkampf war: reaktionär, stereotyp, populistisch, verwirrend. Politisch war er nicht. Zeit, wieder auf Konfrontation zu gehen.

Eine Hand hält einen Flyer mit dem Gesicht von Angela Merkel und dem Spruch "Merkel muss weg"

Gut, dass die Bilder aus Finsterwalde gezeigt wurden. Denn so sieht die Realität aus Foto: dpa

Die Bundestagswahl ist vorbei. Wir können also wieder über Politik reden. Über das Grundsätzliche. Über Ungleichheit, Arbeits- und Wohnverhältnisse, Erwerbs- und Reproduktionsarbeit, Bildung, Europa und die Welt. Die Verteilung von Ressourcen, Macht und Privilegien. Es ist banal, aber unsere kleine Welt ist doch so komplex, dass wir sie nur in Worte fassen können, wenn wir ökonomische, politische und kulturelle Fragen verknüpfen.

Aber es wird ganz anders gesprochen. Soziale Ungleichheit heißt im Großen Flüchtlingskrise und im Kleinen Sozialmissbrauch. Die Verunmöglichung der Emanzipation Gender-Irrsinn oder Integrationsverweigerung. Systematische Diskriminierung nennt man individuelles Problem. Dieses Herausbrechen von Versatzstücken – „Stellvertreter-“ oder „Sündenbockdebatte“ hieß das mal – bestimmte den Wahlkampf. Und sie bestimmt den ganzen gesellschaftlichen Diskurs. Das ist viel: reaktionär, stereotyp, populistisch, rechts, verwirrend. Politisch aber ist es nicht.

„Politische Verantwortung ist nicht nur eine Last, sondern auch ein großer Luxus“, sagte jüngst der ukrainische Autor Serghi Zhadan. Nur muss man die Verantwortung auch annehmen: sich auseinanderzusetzen, Haltung beziehen, Alternativen entwickeln. Es ist schockierend, dass es ausgerechnet die AfD ist, die auch einige richtige Fragen stellt. Ihre Antworten, die sind falsch. Darum aber die Fragen nicht zu stellen – das ist eine Kapitulation der Politik. Appeasement. Mit der Übernahme der rechten Positionen zu versuchen, den Unmut zu befrieden. Die Sehnsucht nach Einigkeit ist der Verzicht auf eine Stimme.

Dieser Verzicht ist längst normal. Man kann sich damit brüsten. Jener offene Brief, in dem Jana Hensel der Kanzlerin vorwarf, ihr Publikum in eine unangenehme Lage gebracht zu haben, statt gegen (rechte) Störer in Finsterwalde durchzugreifen, wurde tausendfach verbreitet. Viel ist an ihm symptomatisch. Dafür, wie so getan wird, als wäre dieses hässliche Gesicht der Rechten und aus-dem-Bauch-heraus-Empörten eine Randerscheinung und nicht längst ein Phänomen der Mitte. Dafür, wie Verantwortung als Beschwerde an die Obrigkeit abgegeben und die eigene Stimme weitergereicht wird. Wo verschiedene Interessen aufeinandertreffen, lernt man eigentlich als erstes „Ich“ zu sagen und so einen Standpunkt einzunehmen. Aber der Brief verzichtet auf das Ich, versteckt hinter einem unmündigen Kind. Eine symbolische Infantilisierung der Politik.

Gut, dass die Bilder aus Finsterwalde gezeigt wurden. Denn so sieht die Realität aus. Eine, die entstanden ist, weil sich der Staat und wir uns nicht politisch auseinandergesetzt haben. Weil viel zu viele auf Floskeln eingegangen sind, statt auf Konfrontation zu gehen. Gut, dass „wir“ in Finsterwalde nicht aus dieser unangenehmen Situation erlöst und mit der Realität versöhnt hat. Spaltung ist eine Voraussetzung für gesellschaftliche Bewegung und Politik. Denn es gibt und gab sie nicht, diese schöne Zeit der Einigkeit. Also? Müssen wir lernen, diese Realität auszuhalten – und in der Konsequenz zu bekämpfen. Das ist nicht bequem. Aber so ist es. Demokratie kommt mit einer Verantwortung. Take it or leave it.

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