Sachbuch „Elend und Macht in Marseille“: Bloße moralische Empörung

Was „The Wire“ für Baltimore ist, soll Philippe Pujols Buch für Marseille sein. Doch der Hype um das Sachbuch fußt auf einer dünnen Grundlage.

Wäscheleinen hängen zwischen Häuserschluchten

Je näher der Autor hinschaut, umso fremder schaut es zurück Foto: imago/Westend61

„Elend und Macht in Marseille“ lautet der Untertitel eines neuen Buches über die zweitgrößte Stadt Frankreichs, und zumindest der erste Teil dieses Untertitels lässt sich auch auf das Buch des Journalisten Philippe Pujol selbst anwenden. Das Elend seiner Reportage besteht darin, dass es sich um einen in die Länge gezogenen Artikel handelt, wie er in einem x-beliebigen Magazin stehen könnte. Viele mögen darin keinen Nachteil sehen, aber von einem Sachbuch sollte man Hintergründe, Analyse und einen historischen Kontext erwarten können.

Stattdessen besteht das Buch aus zum Teil reißerisch aufgemotzten Berichten über individuelle Schicksale, über Personen also, die in ihrer Typologie so eindimensional und klischeehaft sind, dass sich außer einem „wie schlimm aber auch“ kaum ein Erkenntnisgewinn aus dem Buch ziehen lässt.

Außer seiner moralischen Empörung über die Zustände hat der Autor kein begriffliches Handwerkszeug, um über eine so spannende Stadt wie Marseille mehr herauszufinden als den Befund: Überall herrschen Chaos, Gewalt, Korruption. Leser, die sich gerne bestätigen lassen, was sie schon vorher wussten, sind hier an der richtigen Adresse: Für sie funktioniert das Buch als Wimmelbild des Elends und evoziert ein permanentes Einverständnis.

Pujol will beispielsweise „verstehen, was für ein Leben Kader geführt hat“, ein sogenannter Wegwerfgangster, wie man gleich in der Kapitelüberschrift erfährt. Dazu taucht Pujol tief ein: „Ich laufe, wo er gelaufen ist. Ich fahre, wo er gefahren ist. Ich trinke das pappsüße Zeug, das er immerzu in sich hineinschüttete. Ich rauche sogar sein abscheuliches Dope.“ Eine eigenwillige Berufsauffassung, die des Journalisten Nähe zu seinem Opfer beweisen soll.

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Aber je näher er hinschaut, desto fremder schaut es zurück: „Letzten Endes komme ich zu dem Ergebnis, dass er einfach nur die verrückte Existenz eines Normalos geführt hat, der nicht in die richtigen Kreise hineingeboren wurde.“ Liegt es also am sozialen Umfeld? „Man kann nicht behaupten, dass Kaders Vater sich nicht um ihn gekümmert hat, und auch nicht, dass es Kader an Liebe oder an Bindung zu den Eltern fehlte.“ Es ist die Armut, die ihn mit drei Kugeln im Kopf enden ließ.

Das kann in diesem besonderen Fall zwar so sein, aber es ist eine sehr schlichte Annahme, die vor allem nicht dazu taugt zu erklären, warum Kader zum Kleinkriminellen wurde, genauso wenig wie Reichtum jemanden dazu prädestiniert, zum Gangsterboss zu werden. In dieser schlichten Vorstellungswelt erfährt man wenig darüber, wie die Problembezirke entstanden sind, wie ihre soziale Zusammensetzung ist und wie sie sich inzwischen vielleicht verändert haben, nur prall mit Details angereicherte Geschichten, die man schnell wieder vergessen hat.

Philippe Pujol: „Die Erschaffung des Monsters. Elend und Macht in Marseille“. Übersetzung O. Schulz/ T. Bardoux. Hanser 2017, 286 Seiten, 24 Euro.

Natürlich kann man über Einzelschicksale berichten. Grandios hat Ramita Navai das in ihrem Buch über Teheran, „Stadt der Lügen“ (2016), gemacht, weil sich allein durch die Kraft ihrer Erzählung und nicht durch einen mahnenden Zeigefinger ein gesellschaftlicher Kosmos öffnet, den man durch ihre Geschichten zu verstehen beginnt. Aber dazu fehlen Pujol nicht nur die sprachlichen Mittel, sondern auch das Verständnis, eine Geschichte zum Leben zu erwecken. Er will empören und schockieren, und deshalb reiht er eine Szene an die andere, in der er das Unrecht der französischen Politik anprangert. Man wird davon jedoch nicht empört, sondern nur müde.

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