Abtreibungen in Armenien: Schuld und Sühne

Söhne sind die Erben der Familie, Töchter sind uner­wünscht. So denken viele in Armenien. Alla bekämpft ihre ungeborenen Mädchen.

Eine Frau läuft zwei Mädchen hinterher

Das Weihwasser soll Allas Töchter reinwaschen. Eigentlich sollten sie nicht leben Foto: Tigran Petrosyan

JEREWAN taz | Die beiden Mädchen sind in weiße Kleider gehüllt, auf ihren Rücken stecken Engelsflügel. Ihre Mutter trägt ein langes Kleid, ganz in Schwarz. Sie führt ihre Kinder zum Altar. „Ich taufe euch im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sagt der Priester und dann „Amen“. Er lässt Weihwasser über die Köpfe der Mädchen rinnen, die acht Jahre alt sind und vier und eigentlich gar nicht am Leben sein sollten. Weil sie Mädchen sind.

Die Kirche in einem Außenbezirk der armenischen Hauptstadt Jerewan ist mit Blumen geschmückt. Etwa fünfzig Besucher folgen dem Gottesdienst, nochmal so viele warten schon im Restaurant. Diese Taufe muss richtig gefeiert werden, mit Essen und Trinken, mit Livemusik und Feuerwerk, und einem Tanztheater für die Kinder, die heute in die apostolische Kirche aufgenommen werden. Dabei ist die Familie gar nicht sehr religiös. Doch das Weihwasser soll sie alle reinwaschen.

„Noch ein Tag und meine Kinder sind frei.“ Frei von ihrer Vergangenheit. So hatte Alla in der Nacht vor der Taufe in ihrer Wohnung gesagt und dabei gestöhnt. Die beiden Mädchen schliefen schon längst. Sie kochte Kaffee, um wach zu bleiben. Sie wollte noch die Taufkleider bügeln. Ihr Mann telefonierte.

Artak, 34 Jahre alt. Er heißt eigentlich anders, so wie alle in diesem Text. Studium an einer militärischen Hochschule doch dann entdeckt er, dass die Armee nichts für ihn ist. Unter Freunden ist er beliebt, weil er so gut parodieren kann. Er arbeitet selbstständig in einer Logistikfirma. Liefert Gewürze aus, verdient anständig. Bald will er eine Wohnung kaufen.

Gute Bräute

Armenien ist geprägt von traditionellen Familienstrukturen. Frisch verheiratete Paare leben oft bei der Familie des Mannes. Alla und ihr Mann waren anders, sie wohnten sofort allein, ohne Schwiegervater und Schwiegermutter. Alla wollte nicht die zweite Geige spielen.

Alla, 30 Jahre alt. Ausgebildete Krankenschwester. Mit 21 wurde sie zum ersten Mal Mutter. Sie wollte kein Mädchen. Warum? „Töchter heiraten und verlassen das Elternhaus“, sagt sie, „der Sohn ist der Erbe der Familie.“ Ein Sohn kann sich später um die Eltern kümmern.

Freundinnen ­überbieten sich mit Rezepten für ­hausgemachte Abtreibungs­cocktails. Wodka mit ­schwarzem ­Pfeffer. Wodka mit Milch. Honig und Jod, heiße Bäder

Alla sagt: „Meine Töchter haben andere Aufgaben. Sie sollten gute Bräute sein.“

Artak sagt: „Die Enkelkinder meines Sohnes würden mein Haus beleben. Sie werden meinen Familiennamen tragen.“ Er sagt auch: „Ich will ohne Schande in die Rente gehen.“

Die Frau soll zu Hause bleiben

Schande, ein Begriff, der für ihn nur für Mädchen gilt. Seine Maxime: Der Mann darf alles, die Frau nichts. Jedenfalls nicht ohne seine Zustimmung. Erziehung, sagt Artak, Erziehung ist das Schlüsselwort und seine sehr streng. Er will nicht, dass die Mädchen später in einem Club feiern gehen. Erst recht nicht nach 11 Uhr abends. Heiraten sollen sie. All diese Herausforderung plagen Artak.

Einem Sohn allerdings, daran lässt Artak keine Zweifel, würde er Freiheiten und Abenteuer gönnen – und natürlich auch das Geld dafür zukommen lassen. Artak räkelt sich auf dem weißen Sofa neben der Schrankwand. Es ist nagelneu, ein Geschenk an die Familie zum Tauftag. Er wirkt entspannt, wenn er so redet. Alla ist hingegen aufgeregt. Sie kneift die Augen zusammen, massiert mit den Fingern die Stirn. Sie hat nie in ihrem Beruf gearbeitet, wurde stattdessen Hausfrau. „So ist es richtig“, sagt Artak. „Das finde ich auch“, antwortet Alla.

Den Cytotec-Horror vergisst Alla nicht

Es war Artak, der darauf bestand, dass sie das erstes Kind zur Welt bringt – ganz egal ob Junge oder Mädchen. Viele armenische Männer wollen nur Söhne. Inzwischen wollen allerdings auch viele Mütter keine Mädchen mehr. So wie Alla.

Wie oft hat sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen lassen? Einmal, zweimal, dreimal?Alla lacht.Viermal? Fünfmal?„Kann sein“, sagt sie und schaut weg.

Schon mehrmals hatte sie das Präparat Cytotec mit dem Wirkstoff Misoprostol eingenommen, einem synthetischen Hormon zur Abtreibung, alleine, zu Hause, erfolgreich. Früher gab es das Medikament in Armenien rezeptfrei. Auch heute ist es nicht schwer zu bekommen. Alla holt eine Packung Cytotec hervor, das ihr ein Gastroenterologe verschrieben hat. Das Medikament kann auch bei Magenschmerzen helfen. Doch den Cyotec-Horror, so nennt sie ihn, kann sie nicht vergessen.

Die Tochter: Ein Wunder

Abtreibungen sind in Armenien ab der 12. Schwangerschaftswoche verboten. Viele Frauen warten trotzdem ab, bis sie das Geschlecht der Kinder auf dem Ultraschall sehen. Wenn es ein Mädchen ist, versuchen sie, die Schwangerschaft zu beenden.

Einmal hat Alla es übertrieben. Sie ignoriert den Beipackzettel und schluckt jede Stunde eine Tablette. Dazu schiebt sie einige in die Vagina. 15 Tage lang blutet sie und weder sie noch ihr Mann trauen sich zum Arzt.

Und die jüngste Tochter? Wie ist sie unter solchen Umständen überhaupt zur Welt gekommen? „Es ist ein Wunder geschehen“, sagt Alla.

Anstoßen auf den Abort

Als sie von der zweiten Schwangerschaft erfährt, will sie wieder abtreiben. Doch Cytotec fällt nach dem Horrortrip erst einmal aus. Freundinnen überbieten sich mit Rezepten für hausgemachte Abtreibungscocktails. Wodka mit schwarzem Pfeffer. Wodka mit Milch. Die Frauen stoßen damit an. „Auf den Abort! Zum Wohl!“ Der Hochprozentige verbessert zwar die Stimmung, für eine Abtreibung allerdings ist der Cocktail nicht stark genug.

Alla besorgt sich ein anderes Rezept, ein Gebräu aus Honig und Jod. Um die Wirkung noch zu verstärken, lässt sie sich ein heißes Bad ein und verbringt in diesem Rhythmus die nächsten Tage. In ihrer Angst vor noch einem Mädchen vergisst sie, sich um sich selbst zu sorgen. Sie vergiftet ihren Körper, zerstört ihn. Und Artak, ihr Mann, hilft mit.

Plötzlich aber melden sich Bedenken: Ist es nicht ein Verbrechen? Ist es bloß ein Embryo? Ist es nicht schon ein Baby? Töte ich gerade mein Baby?

Ein Glücksspiel mit X und Y

Schließlich sucht sie einen Arzt auf. Im Ultraschall sieht sie ihr Baby, den Kopf, die Augen, die Nase. Sie sieht das Herz schlagen. Sie sieht Hände und Füße. Und sie hat einen Befund: Das Kind ist, trotz aller Torturen, kerngesund. Für eine Abtreibung gibt es keinen Grund. Alla kann es kaum glauben. Sie nimmt sich ein paar Tage Bedenkzeit. Sie ist hin- und hergerissen. Kann das Kind wirklich gesund sein? Sie will keines mit Behinderung. Während sie noch überlegt, wird ihr Bauch immer größer. Nach einer weiteren Woche erfährt sie, dass es ein Mädchen ist. Mari wird geboren. „Ein Glückskind“, sagt Alla heute doch glücklich ist sie selbst immer noch nicht.

Sie versucht weiter, einen Jungen zu gebären. Sie führt Kalender und macht immer wieder Schwangerschaftstests. Versucht, das Geschlecht vorab zu bestimmen, wieder sind es Freundinnen, die behaupten, ein Rezept zu wissen. Alla zeigt ihr Smartphone. Ein Schwangerschaftskalender lässt sich auch digital führen. „Es ist wie ein Glücksspiel mit X- und Y-Chromosomen.“ Sie klingt enttäuscht, wie eine Lottospielerin, die auf den Jackpot wartet.

Alla öffnet eine Schublade des großen Wohnzimmerschrankes. Darin bewahrt sie frisch gewaschene Handtücher auf – und einen Zettel. Darauf steht eine einfach Tabelle, handgeschrieben, sie erinnert an ein Spiel mit X und O. X steht für Junge, O für Mädchen. Horizontal hat Alla ihr Alter eingezeichnet und vertikal die fruchtbaren Tage. Auf armenisch hat sie dazu gekritzelt, dass die Tabelle von einem im Institut in Peking erarbeitet wurde. Das soll Vertrauen schaffen.

Und wenn es trotz allem wieder nichts wird mit dem Jungen, würde sie ein Mädchen erneut abtreiben? Sie nickt und flüstert. „Ja.“ Ihre Lippen haben sich dabei nicht bewegt.

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