Die Wahrheit: Frau Kelle sucht die Avantgarde

Interessant, dass sowohl Trumps Ehefrau Melania als auch Trumps Tochter Ivanka beim Besuch im Vatikan ihr Haar verschleierten.

Manchmal, wenn Journalisten langweilig ist, denken sie sich etwas Überraschendes aus. Zum Beispiel, dass nicht die rassistische Grundeinstellung eines Teils der US-Bevölkerung verantwortlich für den Wahlsieg Donald Trumps ist, oder die Begeisterung einer kapitalistischen Gesellschaft für einen skrupellosen Geschäftsmann, sondern …

Wer könnte sonst Schuld sein? Mal überlegen. Vielleicht jemand ganz Absurdes … Klar, die „Kultur-Linken“ mit ihrer irren Identitätspolitik, diesem übertriebenen Wunsch, dass Männer und Frauen gleichbehandelt und niemand wegen seiner Hautfarbe oder seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden sollte. Super! Das ist ja mal eine steile These, die dreieinhalb Tage Aufmerksamkeit im Medienzirkus garantiert.

Ähnlich paradox stilisierte Birgit Kelle kürzlich in der Welt Melania Trump zur „feministischen Avantgarde“, unter anderem weil sie in Saudi-Arabien beim Staatsbesuch ihres Mannes einen Hosenanzug und kein Kopftuch getragen habe. Selbstverständlich kommt Kelle nicht umhin zu erwähnen – das kann ja jeder und jede in zwei Sekunden nachgoogeln –, dass auch Michelle Obama, Hillary Clinton, Angela Merkel und Theresa May bei Besuchen in Riad ihre Häupter nicht bedeckt hatten.

Melania Trump tat also etwas, was schon viele andere vor ihr taten. Mit Verlaub, das ist nicht die klassische Definition des Begriffes „Avantgarde“. Und warum handelten alle diese Frauen so? Vielleicht weil die zweifelsohne frauenfeindliche Regierung in Saudi Arabien den weiblichen Gästen bei Staatsbesuchen – warum auch immer – nicht vorschreibt, was sie zu tragen haben? Wenn jemand sich also nicht an nicht existierende Regeln hält, ist das laut Kelle Avantgarde. Darauf muss man erst mal kommen.

Nichtavantgarde hingegen sind „selbsterklärte“ Feministinnen wie die schwedische Handelsministerin Ann Linde und die Grüne Claudia Roth, die beide bei Besuchen im Iran ein Kopftuch trugen. Im Gegensatz zu den Saudis bestehen die Iraner allerdings auf das Tuch.

Die implizite Behauptung, dass Melania Trump in der gleichen Situation gänzlich anders gehandelt und „wehende Haare“ (Kelle) gezeigt hätte, lässt sich leider nicht überprüfen, da die Wahrscheinlichkeit eines Staatsbesuchs ihres Gatten Donald Trump im Iran doch eher sehr gering ist.

Interessant ist, dass sowohl Melania als auch Trumps Tochter Ivanka beim Besuch im Vatikan dann ihr sündiges Haupthaar mit schwarzen Schleiern bedeckten. Ohne dass der Vatikan dies verlangte.

Was man in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen sollte: Frau Kelle, die Großmeisterin des feministischen Fortschritts, wurde 2013 mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis ausgezeichnet. Einem Preis, der maßgeblich von der Jungen Freiheit ins Leben gerufen wurde und der zuvor schon Ellen Kositza, der neurechten Autorin und Frau des Rechtsideologen Götz Kubitschek, verliehen wurde. Und da ist sie dann doch noch, die Avantgarde, wenn auch die reaktionäre.

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Autor, Theater-Dramaturg, Performer und Musiker. Hartmut El Kurdi schreibt Theaterstücke, Hörspiele (DLF / WDR), Prosa und für die TAZ und DIE ZEIT journalistische und satirische Texte. Für die TAZ-Wahrheit kolumniert er seit 2001. Buchveröffentlichungen (Auswahl): "Revolverhelden auf Klassenfahrt", "Der Viktualien-Araber", "Mein Leben als Teilzeit-Flaneur" (Edition Tiamat) / "Angstmän" (Carlsen) / "Als die Kohle noch verzaubert war" (Klartext-Verlag)

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kari

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