Debatte um Zwangsmaßnahmen: Wohlverhalten oder Kindeswohl

Die Bundesregierung plant ein Gesetz, das die Messlatte für Zwangsmaßnahmen bei Kindern und Jugendlichen senkt. Gute Gründe dafür gibt es nicht.

Kinderfüße gucken aus einer rot-gelb gestreiften Hängematte

Kinder fesseln hilft vor allem den Erwachsenen Foto: dpa

Junge Menschen und ihre Familien haben bisweilen Bedürfnisse nach Unterstützung, die sich vernünftigerweise nicht wegdefinieren lassen. Auch dass es relativ zu solchen Bedürfnissen insgesamt nicht zu viel, sondern zu wenig öffentliche Unterstützung gibt, ist eine Tatsache. Dabei kann es auch um Maßnahmen gehen, die von den Betroffenen nicht aktiv erbeten werden. Ein solcher Paternalismus, der sich gegebenenfalls rechtfertigen lässt, beschreibt über weite Strecken die Realität der Kinder- und Jugendhilfe.

Die Frage, um welche Art der Unterstützung es dabei geht, stellt sich trotzdem. Wenn Unterstützung darin besteht, Minderjährige einzusperren oder zu fesseln, löst dies in der Regel selbst bei nur mäßig liberalen ­Bür­ge­r*innen Unbehagen aus. Zu Recht.

In einer offenen Heimeinrichtung wurde ein autistisches Kind regelmäßig gefesselt. Die Eltern waren mit dieser in der Fachsprache Fixierung genannten Fesselung einverstanden. Nach derzeitigem Recht genügt das. Akzeptabel ist es deswegen noch lange nicht. Die Bundesregierung und die Grünen haben nun zwei ähnliche Gesetzentwürfe vorgelegt: Freiheitsentziehungen sollen nun auch bei Minderjährigen generell einem richterlichen Genehmigungsvorbehalt unterliegen.

Zwangsmaßnahmen „unterhalb“ geschlossener Heime, wie etwa Einschließungen in sogenannte Time- out-Räume oder Fixierungen, sollen in der Jugendhilfe keine Strafen darstellen, sondern, so ein Hamburger Eckpunktepapier, der erzieherischen Neutralisierung von Fehlverhalten dienen. Trotzdem wird im Kontext solcher Maßnahmen bisweilen bestraft, dass es kracht. Zum Teil werden in der Praxis Programme angewendet, die von Bootcamps kopiert sind. Das Leben der jungen Menschen wird dabei in einem Ausmaß und einer Kleinteiligkeit durch Regel- und Strafkataloge reglementiert, die sich in typischen Familien kaum finden dürften.

Vom Bootcamp abgeguckt

Freiheitsentziehende (Zwangs-)Maßnahmen der öffentlichen Pädagogik sollen dem Kindeswohl dienen. Dieses Ziel gilt aber für alle Leistungen und Angebote der Jugendhilfe: Der deutungsoffene Kindeswohlbegriff steht daher hinter Versuchen, junge Menschen zu befähigen und zu „empowern“, hinter Forderungen nach Partizipation und Mitbestimmung – aber eben auch hinter Fesseln und Einsperren. Kindeswohl ist die fundamentale Kategorie für eine öffentlich verantwortete Erziehung, schon allein, weil die Erziehungsrechte bei den Eltern liegen und der Staat nur zur Sicherstellung des Wohls der Kinder eingreifen darf. Das sehen unter anderem das Grundgesetz, das Bürgerliche Gesetzbuch und die UN-Kinderrechtskonvention so vor.

Für freiheitsentziehende Maßnahmen lag die Messlatte aber lange Zeit höher. Als zulässig galten sie nur für die je kürzestmögliche Dauer zur Abwendung von konkreten erheblichen Selbst- und Fremdgefährdungen, das heißt Gefährdung von Leib und Leben. 2008 wurde der entsprechende Gesetzestext Paragraf 1631b BGB aber verändert: Die „erhebliche Selbstgefährdung“ ist nicht mehr das entscheidende Kriterium, sondern wird nur noch beispielhaft genannt. Wie der Bundesgerichtshof ausführt, hat der Gesetzgeber „davon abgesehen, Gründe für eine geschlossene Unterbringung abschließend aufzuzählen, da diese Gründe zu vielschichtig sind“.

Die „erhebliche ­Selbst­gefährdung“ ist nicht mehr das entscheidende Kriterium

Hier lauert nun eine Gefahr. Die Gründe der erzieherisch begründeten geschlossenen Unterbringung sind in der Tat vielschichtig und oft weit entfernt von erheblicher Selbstgefährdung. Bisherige Forschungen haben nicht ausmachen können, für welche jungen Menschen Zwangsmaßnahmen und geschlossene Heime eingesetzt werden und für welche nicht. Kriminalität, Schulverweigerung und die Tatsache, dass andere Einrichtungen mit den jungen Menschen nicht zurechtkommen, sind die häufigsten Gründe. Diese Kinder sollen gebessert werden. Sie sollen, wie das Landesjugendamt Rheinland ausführt, „durch strenge Regeln und begrenzte Freiräume [. . .] ihr Verhalten neu orientieren und sozial akzeptableres Verhalten lernen“. Durch Einsicht und Kooperation sollen sie „sich die Freiheit schrittweise zurück [. . .] erobern“ und die „Bereitschaft entwickeln“, das Angebot „quasi als eine Bewährungsprobe anzunehmen“. Dieses freiheitsentziehende „Angebot“ anzunehmen, kann aber dauern: Auf etwa 18 Monate sind geschlossene Heime ausgerichtet. Bereits daran wird deutlich, dass es um erzieherische Programme und nicht um die Abwehr akuter Gefährdungen geht.

Zurück zur Heimkampagne

Statt dies wieder zurückzunehmen, beschränkt sich die Bundesregierung auf einen gerichtlichen Genehmigungsvorbehalt pädagogisch durchtränkter, durch Kindeswohlfunktio­nalität begründeter geschlossener Heime und anderer Formen der Freiheitsentziehungen. Sie unterstreicht damit, dass solche Maßnahmen genehmigungsfähig sind.

Für pädagogische Maßnahmen dieser Art gibt es aber auch jenseits ethischer Einwände keinen Grund. Es gibt Alternativen, die in der Wirkungsforschung auch dann als effektiver gelten, wenn man Wohlverhalten mit Kindeswohl verwechselt. Teilt man die Perspektive, das Wohl von Kindern hänge damit zusammen, sie in die Lage zu versetzen, Zustände und Praktiken zu realisieren, die sie selbst für ihr eigenes Leben begründet wertschätzen können, erschließt sich der Sinn solcher Zwangsmaßnahmen noch weniger.

taz-Leser*innen dürfte die Haasen­burg GmbH ein Begriff sein. Die Kommission zu deren Untersuchung stellte in ihrem Abschlussbericht fest, dass sich die „Pädagogik in der Haasen­burg [. . .] im Angebotskern, in Verfahrensweisen und auch in den fachtheoretischen Grundlagen nur gering und partiell“ von anderen geschlossenen Einrichtungen unterscheide. Daraus kann es nur eine Folgerung geben: diese Praktiken zu unterbinden und entsprechende Einrichtungen zu schließen.

Da solche Praktiken nicht auf geschlossene Heime beschränkt bleiben, sondern auch in die „normale“ offene Heimerziehung durchsickern, spricht viel dafür, den Faden der Heimkampagne der 1970er Jahre wieder aufzunehmen. Der Verweis auf Kinderrechte sollte einem Zivilisierungsschub dienen, nicht seinem Gegenteil.

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