Kolumne Nachbarn: Ein Blick zurück würde reichen

Auf der Schmugglerroute ist kein Platz für alle Gedächtnisdetails. Die Schubladen und die Fotoalben musste ich zurücklassen.

Eine Reisetasche

Ich sollte auf die Reise nicht viel Gepäck mitnehmen, hatte man mir gesagt Foto: imago/Ralph Peters

In dem Augenblick, wo ich etwas schreiben will, beginnt mein Gedächtnis, beginnen meine Gedanken hin und her zu schaukeln. Mir werden Bilder aus meiner Kindheit gegenwärtig. Dann fühle ich mich, als wäre ich noch im Leibe meiner Mutter eingemauert; und sie würden mich plötzlich – dort in den Bergen, die Damaskus und Beirut trennen – herausholen. Ich habe den Eindruck, hinter diesen Bergen liegt nichts Schreibenswertes.

Gelegentlich zwinge ich mich, etwas über die Dinge hinter der Grenze zu schreiben. Immer wieder wirft mich das Schreiben in jenen lang zurückliegenden herbstlichen Morgen und die Nacht davor zurück, als einige Freunde kamen, um mich zu verabschieden. Ich erinnere mich noch, wie ich in jener Damaszener Nacht meine Tränen unterdrückte und meine Freunde aufforderte, keine traurige Abschiedsveranstaltung zu aufzuführen.

In jener Nacht lief ich in meiner Wohnung herum; sammelte kleine Gegenstände ein, warf sie in meinen Rücksack und nahm sie wieder heraus, weil man mir gesagt hatte, ich sollte auf die Reise nicht viel Gepäck mitnehmen.

Ich war gezwungen, meine Freunde, meine Bilder, die Bibliothek, die gesammelten Souvenirs, die Kindheitserinnerungen, die Schubladen samt Inhalt und die Fotoalben zurückzulassen.

Ich musste jene Straßen verlassen, an die meine Füße gewöhnt waren. Auch meine Nachbarn, deren Gesichter in meinem Gedächtnis eingebrannt waren; wie den Gemüseverkäufer, der mir bei jedem Einkauf einen Apfel extra gab, musste ich verlassen und fortgehen. Auf der Schmugglerroute ist kein Platz für alle Gedächtnisdetails.

Kein Blick zurück

In jener Nacht wünschte ich mir, die Nacht möge länger sein und der Morgen sich verspäten. Doch erwartungsgemäß ging mein Wunsch nicht in Erfüllung, denn die Nacht wurde nicht länger, und der Morgen kam rasch.

Einer meiner Freunde rief mir ein Taxi und sagte, er vertraue darauf, dass der Fahrer mich zu einem sicheren Ort fahren würde. An jenem Ort sollte ich eine Person treffen, die mich mit anderen Männern zu den Schmugglern führen würde, die mich sicher aus Damaskus bringen sollten. So konnte ich dem Regime entkommen und vor erneuter Haft verschont bleiben, aus der ich gerade entlassen worden war.

Ich verabschiedete mich von meinen Freunden; einer begleitete mich zum Taxi, bat den Fahrer, gut auf mich aufzupassen und schloss die Autotür. Der Fahrer fuhr los, und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich blickte mich nicht mehr um. Denn ich wusste, ein Blick zurück würde reichen, um meinen Entschluss zur Flucht zu kippen.

Ich überstand die erste Phase unversehrt, wurde dann von einer Person empfangen, von der ich hier nicht erzählen kann; doch ich hoffe, dass ich sie eines Tages wiedersehe, um mich für ihre Hilfe zu bedanken. Diese Person führte mich aus dem vom Regime kontrollierten Gebiet und brachte mich zu den Schmugglern, die mich dann über die Berge in den Libanon brachten.

Gedächtnis bleibt stehen

Ich zog durch die verstreuten syrischen Dörfer in den Bergen, die von der Opposition kontrolliert waren. Ich sah die von Äpfeln schweren Apfelplantagen, die niemand ernten konnte. Viele Äpfel lagen auf dem Boden, da niemand sie um sie kümmerte. Die Essigbäume schmückten die Straßen und spendeten angenehmen Schatten. Sie verleihen den Ortschaften eine besondere Atmosphäre.

Mit den Schmugglern überquerte ich dann die syrischen Berge und kam in libanesisches Gebiet. Ich stellte keinen Unterschied in der Geographie fest. Denn es waren die gleichen Berge, die miteinander verwoben waren. Ich betrachtete unser verwundetes Schicksal in aller Stille, bis ein Schmuggler die Stille durchbrach, als er sagte: Gott sei Dank, wir sind jetzt in Sicherheit. Ich fragte mich, welche Sicherheit ich überhaupt suchte.

Diese Reise ist der Punkt, an dem mein Gedächtnis unverrückbar und hartnäckig stehen bleibt. Es ist der Punkt zwischen dem Bleiben und dem Fortgehen. Über die Reise kann ich hier nicht viel berichten. Vielleicht ein anderes Mal.

Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman

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Kefah Ali Deeb wurde 1982 in Latakia, Syrien, geboren und ist 2014 nach Berlin geflohen. Sie ist bildende Künstlerin, Aktivistin und Kinderbuchautorin, außerdem Mitglied des National Coordination Committee for Democratic Change in Syrien.  

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