Kolumne German Angst: Die vielen Opfer des Holocausts

Benjamin Netanjahu hat Sigmar Gabriel nicht empfangen. Das kann der deutsche Außenminister so nicht auf sich sitzen lassen.

Sigmar Gabriel vor einer Wand im KZ Auschwitz

Sigmar Gabriel gedenkt im Vernichtungslager Auschwitz (Archivbild aus dem Juni 2016) Foto: dpa

Man hätte es dabei belassen können. Sigmar Gabriel hat es darauf angelegt, von Benjamin Netanjahu nicht empfangen zu werden. Und der hatte ihn auch nicht enttäuscht. Die Zeitungen in Deutschland nehmen ein paar Umdrehungen mehr: „Wladimir Tayyip Netanjahu“ hier und „diplomatischer Affront“ gegen Deutschland dort. Alles wie immer also.

Nur – Gabriel selbst reicht das noch nicht. Er muss noch etwas nachschieben. Schließlich steckt in der dieser moralischen Überlegenheit Deutschlands eine Menge Arbeit.

Vorneweg: Die Arbeit der NGOs „B'Tselem“ und „Breaking the Silence“, wegen deren Besuch Netanjahu Gabriel auslud, kann man für falsch halten und Kritik an der Verbreitung falscher Informationen usw. gab es vielfach. Aber beide sind zugelassene Organisationen, ihr Engagement für Menschenrechte mag schief sein, aber ihre Aktivitäten sind legal.

Und genau das ist es, was Israel selbst trotz des reaktionären Populismus Netanjahus ausmacht: Pluralismus. Verschiedene Meinungen auszuhalten, Widersprüche. Platz für Organisationen, die die Regierung oder deren Siedlungspolitik kritisieren. Und das unterscheidet den Staat Israel von den anderen der Region. Dass Gabriel die regierungskritische NGOs überhaupt besuchen kann, hat allein diesen Grund.

Deutschland muss Israel kritisieren

Für FR jedenfalls schrieb er schnell einen Gastbeitrag zusammen, der so ganz und gar die verquere Überheblichkeit zeigt, mit der ein geläuterter Deutscher die Israelis belehren darf. Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Schließlich, so geht der dicke Elefant im Raum, habe Israel aus der Shoah nicht gelernt.

Ganz im Gegensatz zu Deutschland. Darum darf, nein MUSS Deutschland Israel kritisieren. Unter „Freunden“, wie Gabriel betont – eine Freundschaft, die sich Israel im übrigens verbietet. Aber sei's drum, dass macht die Sache nur kommoder.

Sigmar Gabriel

„Es ist an der Zeit, dass sich die Europäer – und die Deutschen – Israel und Palästina heute wieder verstärkt widmen.“

Gabriel, ganz besoffen vom Wissen hier auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, macht sich gleich selbst zum ersten Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik: „Sozialdemokraten waren wie Juden die ersten Opfer des Holocaustes.“ – Das hat wirklich der deutsche Außenminister geschrieben. Nachdem der Text nicht wenige fassungslos gemacht hatte, berichtigte das Auswärtige Amt via Twitter mal eben: „Es muss heißen: ‚der Nationalsozialisten‘. Wir bedauern das sehr.“

Ein paar Tipps von Gabriel

Leider kann man sich nicht sicher sein, ob es der Außenminister nicht doch genau so gemeint hat oder ob es der Freud’sche Teufel war, der da aus dem gequälten deutschen Unterbewusstsein sprach. So wie im Morgen-Briefing des Spiegel: „Die historisch bedingte Sonderbehandlung Israels stößt mit der Regierung Netanyahu an ihre Grenzen.“ Ups, „Sonderbehandlung“, auch so ein Wort für die Vernichtung der Juden.

Aber wenn nur das gewesen wäre. Gabriel behauptet weiter von sich, als „Botschafter der Wertegemeinschaft des Westens“ nach Israel gekommen zu sein. Ganz so, als ob Israel es nötig hätte, sich von einem ausländischen Politiker belehren zu lassen. Ganz so, als wäre dem Land, das ja erst wegen des Holocausts gegründet werden konnte, die „Wertegemeinschaft des Westens“ vollkommen äußerlich.

Gabriel wird sich gedacht haben: Sicher kann Israel noch ein paar Tipps gebrauchen, so als einsame Demokratie im Nahen Osten, umzingelt von Staaten und Terrorgruppen, die das Existenzrecht nicht anerkennen oder die Juden gleich zurück ins Meer treiben wollen.

„Antisemitismus ohne Antisemiten“

Und bloß für den Fall, dass Israel sich partout weiter resistent zeigt gegen die Belehrungen der selbsterklärten deutschen NahostexpertInnen, setzt der Außenminister noch so etwas wie eine Drohung hinterher. „Es ist an der Zeit, dass sich die Europäer – und die Deutschen – Israel und Palästina heute wieder verstärkt widmen.“

Man kann nur hoffen, dass er nicht auch noch ein Gedicht schreiben wird. Mit Jüdinnen und Juden wird das aber wie immer nichts zu tun haben. Es geht ja um Israel! Letzte Woche erschien übrigens der Bericht der Expertenkommission für Antisemitismus. Dort wird nicht nur ein neuer „Antisemitismus ohne Antisemiten“ (Volker Beck) beschrieben, von solchen, sie sich selbst nie als Antisemiten bezeichnen würden und sich in allen Parteien finden und in allen Schichten.

Während der klassische und der sekundäre Antisemitismus (die Unterstellung, die Juden profitierten vom Holocaustgedenken oder die Relativierung durch die Eingemeindung der eigenen Gruppe in die Opfer – siehe „die Sozialdemokraten“) zurückgehen, erstarkt der israelbezogene Antisemitismus (also der Vergleich Israels mit dem Nazi-Regime oder die Dämonisierung als „Apartheid-Regime“ – wie Sigmar Gabriel es 2012 nach einem Besuch in Hebron getan hatte). 40 Prozent der Befragten zeigten sich hier anfällig. Gabriel ist also in guter Gesellschaft. Und das weiß er auch.

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Vollzeitautorin und Teilzeitverlegerin, Gender- und Osteuropawissenschaftlerin.

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