Präsidentschaftswahl Frankreich: Was ist Phase in Frankreich?

Ein Land rückt nach rechts, und die Blasenbewohner wundern sich. Wer ist eigentlich dieses „Volk“, das Le Pen wählen will?

Der Louvre - ein pyramidenförmiges Glasgebäude

Der Louvre in Paris Foto: ap

Wer wählt eigentlich Marine Le Pen? Diese Tochter des einäugigen Veteranen der Kriege in Indochina und Algerien und Finalisten der Präsidentschaftswahlen 2001? Die Tribunin mit der rauchigen Stimme, die von ihren Anhängern einfach nur „Marine“ genannt wird? Die Vertreterin der einzigen Volkspartei, die Arbeitslose und Arbeiter, die „vom Brüsseler Europa betrogen wurden“, verführt? Wer sind diese Leute, die Marine Le Pen ihre Stimme geben? Also, in meinem Bekanntenkreis kenne ich niemanden. Bedeutet das, dass ich nicht (oder nicht mehr) zum „Volk“ gehöre – und dass ich, als jemand, der in Paris wohnt, die Brücken zur sozialen Realität des Landes hinter mir abgebrochen habe? Aber ich stamme doch aus der Bretagne!

Aber halt! Ich kenne doch jemanden, der Le Pen wählt und das auch noch offen zugibt: einen ehemaligen Klassenkameraden. Als Jugendlicher noch ein Kiffer und Fan von Bob Marley; jetzt, als Erwachsener, Bewohner einer Einzimmerwohnung in Brest, ein Einsiedler, der seine Zeit auf kryptofaschistischen Webseiten verbringt und Bier trinkt. Ah, mir fällt noch einer ein! Ein Mitarbeiter von Air France. Italienischer Herkunft. Gut verdienender Typ, mit dem ich einige Male bei Freunden zu Abend gegessen habe. Früher schwieg er am Tisch, jetzt poltert er gern einmal herum.

Na bitte. Ich kenne also zwei erklärte Le-Pen-Anhänger. Der eine ein hilfloser, der andere ein frustrierter. Die Mehrheit der FN-Wähler jedoch ist weder hilflos noch frustriert. Sondern blind, suizidal – oder voll guter Hoffnung. Weil von dem Gefühl beseelt, endlich einmal gehört und repräsentiert zu werden. Vertreten von Marine, der Anti-System-Kandidatin, die dem Volk den Weg in den Élysée-Palast ebnen will.

Vor dem Hintergrund grassierender Arbeitslosigkeit, islamistischer Attentate, begangen von Kindern der Republik, und der allgemeinen Migrationskrise ist Frankreich in den vergangenen Jahren sehr weit nach rechts gerückt: mit der populistisch-nationalistischen Rechten mit Marine Le Pen auf der einen und der reaktionären, provinziellen, bürgerlichen und katholischen Rechten mit François Fillon auf der anderen Seite.

So wählen, „wie man seinem alten 205 treu ist.“

Eine Herausforderung stellt die Sicherheitsfrage und der Auftritt der Polizei in den Vorstädten, den Banlieues, dar, wo doch Frankreich seit den Attentaten vom 13. November 2015 sich immer noch im Ausnahmezustand befindet. Das Bindeglied zwischen dem politischen Personal und der Wirklichkeit des täglichen Lebens sind die Polizisten mit ihren Gesichtskontrollen. Man kann mittlerweile von einem offenen Krieg sprechen zwischen den jungen Vorstädtern, die auf vom Rest des Landes abgeschnittenen und abgeschriebenen Territorien leben, und den Ordnungskräften, die aggressiv und paranoid sind. Sympathisch waren die Flics, die französischen Bullen, natürlich nie. Jetzt kann man einwenden, dass sie das auch nicht zu sein haben. Andererseits: Warum eigentlich nicht?

Unlängst verwechselte ein perverser Bulle seinen Schlagstock mit einem gigantischen Sexspielzeug, um es einem 22-jährigen Schwarzen brutal in den Anus zu rammen. Der Vorfall brachte das Fass zum Überlaufen. Es folgten Aufstände in Aulnay-sous-Bois, aber es gab auch eine rührende Kundgebung junger Menschen mit Migrationshintergund. Sie kamen in die Hauptstadt, nicht um den Louvre zu besuchen, sondern um ihre Abscheu über die ungerechte Behandlung in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger*innen herauszuschreien.

Dazu gab es Streiks in mehreren Pariser Gymnasien. Die Tochter eines Freundes, gerade mal 15 Jahre alt, begann ihre politische Karriere mit der Blockade ihrer Einrichtung. Sie ist angewidert von der Gewalt eines repressiven und strukturrassistischen Apparates, ohne dass dieser Zustand jemals klar und deutlich vom Innenminister festgestellt, verurteilt oder gar behandelt werden würde.

Pascal, Ingenieur bei Peugeot, ist sozialistischer Aktivist und von seltenem Großmut. Er ist im 10. Pariser Arrondissement aktiv – einem Stadtteil, der gerade vollständig gentrifiziert wird. Er äußert mir gegenüber seinen Unmut: „Auf der nationalen Ebene werden wir nicht repräsentiert. Auf lokaler Ebene dagegen fast zu sehr! Ich lebe in einem sozialistischen Getto; 80 Prozent meiner Leute wählen die PS (die Sozialisten). 30 Kilometer weiter ist es schon wieder genau andersherum.“ Er werde Benoît Hamon wählen, aus alter Verbundenheit. „So wie man seinem alten 205 treu ist.“

Muss man zum aktiven Widerstand übergehen?

Die fleischgewordene Fantasie eines Kandidaten außerhalb der etablierten Parteien hört auf den Namen Emmanuel Macron. In ihm verwirklicht sich das sozialdemokratische Ideal einer Welt ohne ideologische Gräben. Er ist der Kandidat der Dienstleister, der Onlineeliten und der Neoliberalen. So gesehen ist er fast schon ein Revolutionär. 39 Jahre jung, wie aus dem Nichts gekommen und mit einer todsicheren Intuition versehen (sein Rückzug aus der kaputten Regierung Hollande war ein kleines Meisterwerk): Macron ist der Mann der Stunde; der Mann, der Frankreich wieder auf die Beine bringen wird (so heißt denn auch seine Partei: En Marche!). Ein hinterlistiger Geschäftsmann. Ein vorpubertärer Strauss-Kahn.

Aufseiten der radikalen Linken werden Alternativen ausprobiert, die über das hinausgehen, was der egomanische Kandidat Jean-Luc Mélenchon („La France insoumise“, „das aufständische Frankreich“) verfolgt – die eine Seite schlägt eine Art Allmende vor, etwas, das das Prinzip der Wahl, das nur mehr als Totem einer demokratischen Willensbekundung wahrgenommen wird, aufhebt. Man kann auch agieren, ohne abzustimmen. Nach dem Motto „Wählen ist sinnlos“.

Die andere Seite unterstützt eine direkte, gewalttätige Demokratie: ZAD – zu verteidigende Zonen. Die „Zadisten“ bestehen aus Globalisierungskritikern, Ökologen, Landwirten, Leuten, die sich außerhalb des Systems wähnen, und nervösen Studierenden. Egal ob man mit den Aktionen der Zadisten etwas anfangen kann oder nicht: Sie erreichen ihre Ziele. Zum Beispiel den Stopp eines Flughafenprojekts in Notre-Dame-des-Landes, in der Nähe von Nantes. Heißt das, dass man zum aktiven Widerstand übergehen muss, weil man auf dem klassisch demokratischen Weg nicht mehr weiterkommt?

Frankreich ist ein altes, müdes Land, sprachlich und kulturell von der angelsächsischen Welt, wirtschaftlich von Deutschland abgehängt. Ein Land der Marginalisierten, das sich aber immer noch in einer geopolitisch wichtigen Position befindet – seine letzte Chance. Ein Schreckgespenst für die Deutschen, die vielleicht zu schnell geglaubt haben, im Zuge der europäischen Erweiterung nach Osten der Mittelpunkt der Welt zu sein.

Gut aussehende Mode an einem kranken Körper

Vincent Platini, Literaturdozent, seit fünf Jahren in Berlin, sagt: „Seit ich hier in Deutschland bin, bin ich beunruhigt. Aber wenn ich die Zeitungen lese, Radio und meine französischen Freunde höre, muss ich wohl auch sehen, dass es eine Lust an der Katastrophe gibt.“

Ich stimme dieser Beobachtung zu, aber nicht voll und ganz. Vor ein paar Jahren trank ich ein Glas mit einem deutschen Arbeiter und dessen Sohn. Sie waren zum ersten Mal in Paris; untergekommen waren sie in einem alten Hotel für 40 Euro die Nacht. Der Vater erwähnte die beiden Weltkriege, aber nur, um zu betonen, dass man nach alldem ja endlich miteinander befreundet sei. Und so lange schon. Ein kleiner, ergreifender Beweis für die Richtigkeit der europäischen Idee.

Die Ablehnung der politischen Kaste, das Ekelgefühl angesichts all der Affären und Skandale, die Ube­ri­sie­rung der Gesellschaft und die zynische Verinnerlichung des Überlebenskampfs im Turbokapitalismus haben die französischen Präsidentschaftswahlen zu einer unglaublich spannenden Angelegenheit werden lassen. Nicht jedoch für die prognostizierten gut 30 Prozent Nichtwähler – sie stellen damit die landesweit immer noch größte Fraktion.

Was mich persönlich angeht, so werde ich links wählen. Nur wen? Im ersten Wahlgang habe ich stets für abgedrehte Kandidaten gestimmt. Ich denke, dass ich dieses Mal strategisch wählen werde. Irgendwie muss ich in diesen Zeiten großer Verunsicherung an die kongolesischen Sapeurs denken, diese proletarischen Dandys, die nach Frankreich immigriert sind und sich hier häufig als Maurer verdingen müssen. Sie haben Stil. Kleidung und Erscheinen sind makellos. Als Stil­ikonen feiern sie überraschenderweise zwei Politiker, die auf sie nichts geben würden: Jean-Marie Le Pen und François Fillon, dessen Vorliebe für Luxusanzüge ja bekannt ist. Die Sapeurs schätzen gute Arbeitskleidung. Die französische Politik, das ist gut aussehende Mode an einem kranken Körper.

A. d. Französischen von Barbara Oertel

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