Merkel trifft Erdogan: Ein letztes Mal in der alten Türkei

Erdoğan will das Verfassungsreferendum und lässt Oppositionelle verfolgen. Dass Merkel zu Besuch kommt, kritisieren viele als Wahlkampfhilfe.

Erdogan streckt den rechten Arm aus und weist Angela Merkel, die vor ihm geht, den Weg

Lässt sich Merkel von Erdogan vorführen? Foto: reuters

ISTANBUL taz | Auf dem Video ist eine junge Frau zu sehen, die in einem lockeren Tonfall in eine Kamera spricht. Sie sagt: „Ich sage Nein zu dem Regimewechsel.“ Eher im Plauderton fährt sie fort: „Ich weiß, dass viele Menschen die Nein sagen wollen, sich bedroht fühlen, gerade deshalb sage ich Nein. Denn ich will, dass die Menschen in diesem Land ihre Gedanken und ihre Meinung frei vertreten können, ohne bedroht zu werden.“ Zum Schluss bekräftigt sie ihr kurzes Statement: „Ich habe keine Angst. Habt ihr auch keine Angst. Wir werden gewinnen.“

Die Frau heißt Sera Kadıgil. Sie ist Anwältin und aktives Mitglied der sozialdemokratisch-kemalistischen Oppositionspartei CHP. Einen Tag nachdem sie das Video auf YouTube hochgeladen hatte, wurde sie festgenommen. Die Polizei beschuldigt sie der Volksverhetzung. Offiziell wurde ihre Festnahme allerdings mit einem bereits gegen sie laufenden Verfahren begründet, in dem ihr vorgeworfen wird, sie hätte den Präsidentensohn Bilal Erdoğan beleidigt.

Kadıgil ist ein gutes Beispiel dafür, wie es Kritikern der Präsidialverfassung, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan in einer Volksabstimmung durchsetzen will, derzeit geht. In diesen Tagen wird Erdoğan das im Parlament am 21. Januar verabschiedete Paket zur Verfassungsänderung unterschreiben. Im April soll die Volksabstimmung folgen.

Genau zu diesem Zeitpunkt kommt Angela Merkel am Donnerstag zu einem Besuch nach Ankara. Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der CHP und Oppositionsführer im Parlament, fragt in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung: „Warum besucht die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Präsident Erdogan in dieser Situation in der Türkei?“ Das ist eine klare Wahlkampfunterstützung für den Präsidenten, empört sich Kilicdaroglu.

13 Jahre plus x

Der Wahlkampf hat längst begonnen. Die Präsidialverfassung soll die Krönung der Laufbahn von Erdoğan werden, der seit 13 Jahren regiert. Bekommt er für die neue Verfassung eine Mehrheit, wird er offiziell zum Alleinherrscher und hätte die Möglichkeit, bis 2029 Präsident zu bleiben. Nicht nur für Sera Kadıgil käme das einem Regimewechsel gleich. Alle Kritiker Erdoğans beklagen, dass mit der neuen Verfassung das Parlament entmachtet und die Gewaltenteilung ausgehebelt wird.

Nach der Gründung der türkischen Republik 1923, also der Abschaffung der Monarchie, und der Einführung des Mehrparteiensystems 1949 wäre die Präsidialverfassung der dritte Systemwechsel in hundert Jahren. Dabei erinnert das Präsidialsystem mehr an die Monarchie vergangener Jahrhunderte als an eine demokratische Verfassung.

Mit aller Macht will Erdoğan seine neue Verfassung durchsetzen. Auf 40 Großveranstaltungen wird er persönlich dafür werben, alle staatlichen Ressourcen werden dafür eingesetzt. Laut der Tageszeitung Milliyet sind bereits alle Provinzgouverneure und die Rektoren aller Universitäten angewiesen, die Kampagne für eine neue Verfassung zu unterstützen. Die gelenkten Massenmedien trommeln nicht nur für Erdoğans Verfassung, sondern sie sind längst dabei, alle Kritiker als Vaterlandsverräter zu denunzieren.

Viele schweigen bereits

Gegen diese geballte Macht versuchen nun Leute wie Kadıgil anzukommen. Sie ist nicht die Einzige, die für eine harmlose Nein-Werbung verfolgt wird. Vor wenigen Tagen kam es auf einer der Istanbuler Stadtfähren zu einem Eklat. Jugendliche hatten an Bord ein Ständchen dargebracht, bei dem sie den Text eines bekannten Liedes in einen „Sag Nein“-Refrain umgedichtet hatten. Als die Fähre von Asien kommend am europäischen Ufer anlegte, wartete bereits die Polizei, um die Jugendlichen festzunehmen. Nur weil die Masse der Passagiere die Jugendlichen vor der Polizei abschirmte, konnten diese entkommen. In der Provinzstadt Aydın wurden Jugendliche der CHP-Jugendorganisation vorübergehend festgenommen, weil sie ein Plakat mit einem „Sag-Nein“-Text aufgehängt hatten.

Viele sehen Merkels Besuch so kritisch wie der Abgeordnete Kılıçdaroğlu. Doch von den meisten anderen hört man in der Öffentlichkeit nichts mehr. Sie sitzen längst im Gefängnis oder sind mundtot gemacht. Nur im persönlichen Gespräch erfährt man noch, was die Menschen, die Erdoğans Präsidialverfassung ablehnen, von Merkels Besuch denken. „Sie soll sich schämen“ ist die häufigste Antwort.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.